press release only in german

"Abbildungen sind immer Verherrlichungen" Indem André Butzer in seinen jüngsten Gemälden die am Boden liegende Leinwand bearbeitet, breitet er das Universum seiner Bildwelten zu seinen Füßen aus. Der Künstler begreift das Bild also weniger als ein Gegenüber, sondern bezieht die erhabene Perspektive und die schwerelose Position eines Weltenschöpfers im Angesicht des zu gestaltenden Alls. So reflektiert er zum einen die strukturellen Grundlagen seiner Malerei und leitet zum anderen die spielerische Eigenständigkeit seiner bildnerischen Mittel in neue Bahnen.

Mit dem aktuellen Verzicht auf die kompakten, vielschichtig reliefierten Farbmassen der letzten Schaffensphase scheint Butzer gleichsam den Schleier zurückzuziehen und unter Beibehaltung seiner malerischen und farbkompositionellen Komplexität stärker das graphische Fundament aller Bildkonstitution in den Blick zu rücken. Jeder einzelne Pinselstrich tritt auch als graphische Bewegungsspur in Erscheinung. Nicht nur die expressive Potenz der Linie wird hier ausgelotet, sondern zugleich ihre struktive und modulare Funktion, ihr kompositionsvernetzendes und raumschaffendes Potenzial offenbart. Dabei fächert der Künstler ein breites und differenziertes Spektrum einer solchen linear bestimmten und somit transparenteren Figurenbildung auf. In diese eher graphische Auffassung fließt auch seine Faszination für den klassischen Comic-Strip oder für den narrativ ausgerichteten Bilderfries mit ein. Einige seiner jüngsten Protagonisten begegnen uns gleich rätselhaften "Rohbauten", in denen das seit 2000 immer wieder anklingende Moment des Skeletthaften zum prägenden Faktor erhoben wird. Parallel dazu zeichnet viele der neuen Arbeiten ein weiß belassener Randsaum aus, der die eigentümliche Lichte und Schwerelosigkeit der dargestellten Szenarien unterstreicht. Das bislang etablierte Figuren- und Typenarsenal aber bleibt bei all dem als Strukturelement erhalten und übt eine Kontrollfunktion aus, um ein Abgleiten ins inhaltlich Unverbindliche zu vermeiden.

"Der Untergang ist willkommen, aber es gibt kein Ende, weil wir nicht neu anfangen wollen."

Mit der bizarren Wortschöpfung "Todall!" etabliert Butzer zugleich ein Motto, das den Betrachter in neue Sphären seiner künstlerischen Vorstellungswelt führt. Möglicherweise ein Ortsname, bezeichnet dieser – einmal mehr lautmalerisch-assoziationsreiche – Titel das Thema einer Werkreihe, in der stärker als bislang die Frage nach der Situation und Verortung, oder besser: nach der generellen Verortbarkeit seiner Bildwesen gestellt und darüber hinaus das korrelative Verhältnis von Figur und Bildräumlichkeit neu erörtert wird.

Bereits in der intimen Kuli-Zeichnung, die diesen Werkkomplex anführt, steht ein elliptisch orientiertes Linienknäuel im Zentrum, das einen formalen Brennpunkt, ein starrendes Auge ebenso gut wie den Wirbeltrichter eines Schwarzen Loches bezeichnen mag. Weitere, vereinzelte Liniensegmente deuten im Verbund mit der Zentralform Figuratives, vielleicht auch Landschaftliches an. Sie selbst wirken in ihrem Verlauf unbestimmt, als würden sie sich ihren Weg ohne vorgefaßtes Ziel suchen, als wären sie von unberechenbaren und unbegreiflichen Kräften motiviert und als gewännen sie Gestalt und Funktion vor allem in Hinsicht auf das magische Zentrum, welches sie gleich Satelliten umrunden.

"Für immer dabei sein, weil unsere Köpfe wie Sonnen des Himmels leuchten."

Das zugleich unheilvolle wie produktive, weil letztlich neue Materie generierende Schwarze Loch begegnet uns wieder in dem großformatigen Gemälde "TODALL! (1)", das motivisch in der Tradition der "Friedens-Siemense" des Künstlers steht. Indem der Betrachter das vielschichtige Anwachsen der Farbsubstanz verfolgt, erlebt er nicht nur die metamorphotische Genese des Gegenstandes – eines irr äugenden Mondgesichts – sondern wird scheinbar zum Zeugen kosmischer Urprozesse. Das edelsteinfarbene Kolorit gemahnt an Gestein, Dampf, Asche und Lava, zugleich aber auch an Eiscreme und Sahnetorte. Die ungestüm, fast ungeschlacht aufgebrachte Ölmasse verbildlicht energetische Prozesse, deren eruptive Urgewalt und chaotische Intensität galaktischen Wirbeln zu entsprechen scheinen. Zugleich lassen die reliefgleichen Modellierungen der Farbmaterie, die Aufwerfungen und Krater der Bildoberfläche an den Durchzug von urzeitlichen Moränen wie an die Überreste lukullischer Orgien denken. Bei all dem bleibt das Gegenständliche in einem in sich ambivalenten, optisch irritierenden Schwebezustand. Positiv- und Negativ-Verhältnis von Figur und Grund, von Wesen und Umraum scheinen unbestimmbar, umkehrbar oder in ihrer Bedeutungsvalenz schlicht aufgehoben, so, als wäre das sich abzeichnende Antlitz Produkt und Zielpunkt der Massenballung ebenso gut wie ihr Ausgangspunkt und ihre Quelle.

"Todall! (2)" zeigt bei gleichbleibendem Motiv eine gänzlich andere Auffassung von Malerei. Die reduzierte Palette und die lasierende, stark verdünnte Farbsubstanz vermitteln dem Gemälde einen gelösteren und verspielteren Charakter. Das rumpflose Antlitz scheint nun wie ein neugieriger Lampion durch das blaue All zu segeln oder auch wie eine Nussschale über das offene Meer zu treiben. Die Ränder der spontan gesetzten Pinselstriche, die hier und da den weißen Grund durchscheinen lassen, verweben sich zu einem dynamischen Gefüge von eher graphischer Binnenstruktur. Die dennoch virulente Sinnlichkeit und Strahlkraft der Farbsubstanz teilt sich hier eher durch die fluktuierenden Pigmentschwemmen und die differenzierte Rhythmik der Pinselführung mit als durch die übereinander gehäuften Schlieren einer plastischen Ölmasse. Das keck lächelnde Bildwesen, Produkt des formalen Dialogs von Kreisform und Bildgeviert, ist durch eine organische Rhythmisierung belebt; arabeskenartige Lineamente umschreiben die gigantischen Augenkonturen. Das leuchtende Weiß der Augäpfel ist mit Farb- und Terpentinspritzern unterschiedlicher Farbe und wechselnder Pigmentdichte übersät; auf andere und eher poetische Weise evoziert dieses "Gesicht" so wieder die Vision zeitenthobener Sternennebel und unermesslicher Milchstraßen.

"Der Körper ist der Übersetzer der Seele ins Sichtbare"

An Funken, Planetenstaub oder flottierende Meteoriten erinnern auch die wässerigen Farbkleckse, mit denen Butzer die Bildwelt der Bewohner von "Hemmleben (Teil 3)" versieht. Einträchtig, wie nach einem kindlichen Malspaß oder einer vergnügten Schlammschlacht, wenden sich die drei monumentalen Bildwesen mit ihren uneinheitlichen, je ins Puppen- oder Comichafte gebrochenen Physiognomien dem Betrachter zu. Die raum- und ortlose Bildwelt, durch die sie hoppeln, erinnert dabei an den Guckkasten eines Kasperle-Theaters. Auch hier lockert das durchscheinende Weiß des Grundes, mit dem die Figuren durchschluchtet sind, das Körperbild auf, ja zerfasert es bisweilen, zumal streckenweise auch die Textur des groben Leinwand-Gewebes mitspricht. Die Torsion und Deformation der Figurenkörper geht einher mit einer enthemmten, impulsiven Pinselschrift, ja scheint aus ihr erst zu erwachsen. Der Leib kommt als Träger und Vermittler seelisch-subjektiver Empfindungen zur Geltung, als Schaltpunkt zwischen materieller Welt und subjektiver Sphäre, als Medium rauschhafter Ekstase wie zielgerichteter Konzentration. Reichtum und Buntintensität der Palette steigern die expressive Wucht des Formgefüges, wobei saftig-opake Farbwerte mit dürren, wattigen Bereichen verwoben sind. Immer wieder auch werden graphische Akzente durch rohe Auskerbungen mit dem Pinselstiel gesetzt. Die farbigen Füllflächen, die das Umfeld der Figuren bezeichnen, gestaltet der Künstler mit derselben Emphase und Ernsthaftigkeit wie die gegenstandsbezeichnenden Formen. So ergibt sich ein unhierarchischer, ein zweck- und richtungsfreier Raum, der allseitig von der Präsenz und rätselhaften Vitalität der bizarren Puppenwesen erfüllt ist.

In "Hemmleben (Teil 1)" ist die Interaktion von Figuren und Umfeld zugleich mit der Komplexität der Palette deutlich intensiviert. Vor dem Hintergrund eines stilisierten Landschaftsprospekts ragt zwischen mehreren kartoffelköpfigen Wesen eine lebensgroße männliche Figur auf, die sich in hierarchischer Frontalität dem Betrachter entgegenwendet. Mit ihren leeren Augenhöhlen, den nobilitierenden Goldakzenten in ihrer Kleidung und den drohend erhobenen Armen gemahnt sie an einen Schamanen, der in einem apotropäischen Beschwörungsakt mit dunklen Kräften in Verbindung tritt und die ihn umschmeichelnden Gnome und Dämonen gleich Puppen tanzen lässt. Mit dem durchscheinenden Bildgrund ist sein Oberkörper von einem kontrastierend weißen Lichtsaum eingefasst, begreifbar als Ausgangspunkt aller die Bildwelt durchzuckenden Helligkeiten. Weiße Lichtschluchten blitzen in den Körpern und Augen der übrigen Bildwesen auf, ihre Existenzsphäre zerfällt in vibrierende Facetten, wirkt wie energetisch aufgeladen oder unter Strom gesetzt. In ihrer mitreißenden und alles erfassenden Dynamik erzeugt die Szenerie ein Milieu ebenso ersehnter wie verderblicher Genüsse. Gleichwohl verbindet sich der situationale Kontext zu keiner szenischen Einheit, in der die Figuren kooperierten oder aneinander Anhalt fänden, auch wenn ihre farbige Erscheinung – womöglich gleichfalls unter dem Einfluß des Magiers ins Hyperreale, fast schmerzhaft-Giftige gesteigert – sie als Wesen gleicher Abstammung und gleichen Schicksals ausweist.

"Alle Bilder sind nur Träume von jener heimatlichen Welt, die überall und nirgends ist."

Ein gobelinartiges Verweben der Bilddinge, in welchem die Tiefendimension als Bezugsparameter zwischen Leib und Ding weitgehend ausgeklammert bleibt, kennzeichnet auch "Ludwig Ganghofer". Die Pinselhiebe, fast alle in Länge und Umfang vergleichbar, konstituieren gleich Modulen die Bildwelt. Ein gestisches Kreuz und Quer in Laub- und Brombeertönen indiziert die ländliche Idylle, aus deren Unterholz der wuchtige Heimat-Dichter hervorstapft. Der nervöse Duktus versieht seine Försteruniform mit streifigen Rippenschemen, bevor er sich zum expressiven Ornament verselbständigt. Im monströsen Kopf findet sich die geschlossenste und ausgedehnteste Fläche des Bildes, mit dem bannenden Blick aus nachtschwarzen Augenkreisen eine Art Fixpunkt und Zentrum des Formengewirrs. Die Durchlichtetheit der übrigen Bildwelt unterstreicht den geisterhaften Charakter des Protagonisten, der mit seinem schwankenden, seltsam unfesten Leib so variabel wie ein Mobilé daherkommt. Der weiße Bildgrund fungiert als Matrix unendlich vieler vorstellbarer Konstellationen des Körperbildes und malerischer Formereignisse. Kathrin Elvers-Svamberk in: "André Butzer - TODALL!", Ausst.-Kat. Galerie Hammelehle und Ahrens, Köln 2003 (Pressetext)