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Der in Hamburg lebende Photograph André Lützen (*1963, Hamburg) arbeitet in Serien. Seine Photoessays sind durch Vor- und Rücksprünge gekennzeichnete bildnerische Sequenzen, die linear zu lesen sind und doch die Gleichzeitigkeit des Gesehenen im memorierenden Bewusstsein des Betrachters fordern.

So schuf André Lützen in „Boule Fale", einem Photoessay über die Rap-Szene von Marseille und Dakar, den Ort einer durch die Erzählung erst entstehenden Identität. Auf der Suche nach den Wurzeln einer Spielart des Rap, den Musiker schwarzafrikanischer Herkunft in Marseille entwickelt haben, entdeckte er dessen Wurzeln in der Erzähltradition senegalesischer Griots und deren Weiterentwicklung durch Rap-Musiker in Dakar. Durch die Verknüpfung beider Musik-Kulturen schuf André Lützen einen fiktiven Ort, in welchem die durch Kolonialismus, Versklavung, Potentatentum von Machtcliquen geprägte Gegenwart der Musiker in Dakar mit der durch Ausgrenzung, Rassenhass und Revolte bestimmten Situation der Musiker konvergiert, die in der französischen Diaspora als Nachfahren von Auswanderern leben.

„Loch im Kopf" kreist in ähnlicher Weise um das Problem der Identität, doch rücken hier das Phänomen des Erinnerns und seine identitätskonstituierende Funktion in das Zentrum des Interesses. In der mehr als 70 Einzelbilder umfassenden Serie wird die Frage aufgeworfen, in welchem Maß Erinnerung Gesetzmäßigkeiten des kognitiven Erkennens und des analytischen Denkens folgt oder in welchem Maß sie assoziativ geschieht; inwiefern sie Substrat eines gliedernden Denkens oder Produktion und damit Wiederholung von Kontingenz darstellt. Indem André Lützen seine Bildersequenz weniger anhand inhaltlicher, sondern viel mehr anhand formaler Kriterien strukturiert, legt er das Schwergewicht eindeutig auf ein assoziativ schweifendes Memorieren. Orte und Begebenheiten, Personen und Stimmungen, die weder räumlich noch zeitlich miteinander in Verbindung stehen, werden in Relation zueinander gebracht. Trotz der streng linearen Anordnung der Einzelbilder entstehen Querverbindungen, die wiederum vom Betrachter eine memorierende, assoziativ-sprunghafte Rezeption erfordern.

Letztlich bleibt es auch dem Rezipienten überlassen, welche „Geschichte" er aus den Bildsequenzen herausliest. Ist es eine Geschichte der Tatsachen oder eine Geschichte der Sehnsüchte, der Träume und Vorstellungen? Identität geht aufin Möglichkeitsformen, in einer Unverbundenheit nicht nur bezüglich der aufeinanderfolgenden zeitlichen Geschehnisse, sondern auch in einer Unverbundenheit der synchron nebeneinander existierenden seelischen Ebenen, und ist doch an die leibliche Gegenwart dessen gebunden, der über über die Möglichkeit zu Erfahrung und zu Erinnerung verfügt. Der Titel „Loch im Kopf" erinnert an diese schmerzliche Leibgebundenheit jeder Erfahrung und jeder Form von Identität. Indem assoziativ Einzelbilder zu einer von vielen möglichen Geschichten zusammengefügt werden, erinnert André Lützens photographische Serie sowohl an die Vielfalt der möglichen Geschichten, der möglichen Erzählungen, der möglichen Perspektiven als auch an die Unhintergehbarkeit und Notwendigkeit der physischen Präsenz, an die Einmaligkeit und Einzigartigkeit jedes Einzelnen als Subjekt der Erfahrung.

Pressetext

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André Lützen – Loch im Kopf