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Andrea Lehmann (*1975 in Düsseldorf) erschließt mit ihren Arbeiten Orte, an denen Realität und Fiktion miteinander verschmelzen. Die malerischen Inspirationen der Absolventin der Düsseldorfer Akademie finden ihren Ursprung in realen Begebenheiten der Wissenschaftsgeschichte, in historischen Ereignissen und Personen der jüngeren und jüngsten Zeitgeschichte sowie in überlieferten Geschichten, deren Hintergründe häufig genug fantastisch anmuten. Dabei reagiert sie auf den vorhandenen Umgebungsraum und kreiert Zwischenwelten, die dem Wunderbaren, Rätselhaften und der Verwandlung eine Form geben. Häufig geleitet von einer Protagonistin, die das Antlitz der Schöpferin selbst trägt, folgt der Besucher der Künstlerin in ihren Kosmos. 
Formal betrachtet erweitert Andrea Lehmann das klassische Tafelbild mittels Verwendung z.B. von Haar zur Collage, indem das verwendete Material sich von seiner zweidimensionalen Oberfläche löst und in den Raum hineinragend das Werk in die Dreidimensionalität überführt. Statt die Bilder an der Wand zu montieren, arrangiert Lehmann die Gemälde zu einer raumgreifenden Einheit. Mit dem kalkulierten Effekt der Theaterkulisse, lässt sie den Betrachter physisch an Orte gelangen, die ihm im realen Leben verborgen bleiben. Die Künstlerin verweist durch die überirdischen Zwischenwelten auf die vierte Dimension, die unser Gehirn nicht zu fassen vermag und unseren direkten Erfahrungen nicht zugänglich sind. Sie existiert im Bereich der Höheren Mathematik und Physik oder als fiktives Konstrukt in den Geisteswissenschaften. Diese unfassbare Dimension steht im Werk Lehmanns stellvertretend für die Fantasie und unbekannte Orte, wie man sie in Märchen und Legenden findet. Mit ihrer Serie "Pferde des Konjunktivs", auf die ich hier exemplarisch eingehen möchte, offeriert sie dem Betrachter eine Dimension des Möglichen. 



Das Pferd als Möglichkeit zu betrachten, greift weit in die Menschheitsgeschichte zurück. War es ursprünglich vor allem der Leib des Tieres, der genutzt wurde, verarbeitet Lehmann in ihrer Malerei auch die weitergehende Verwendung seiner körperlichen Kraft, die schließlich nur noch als sprachlicher Begriff und „Zählmaß“ existiert, wenn man bspw. von der Leistungsstärke eines Motors beim Auto spricht. Dieser außerhalb des verbal-kognitiven Gebrauchs kaum darstellbaren Form von „Pferdestärke“, verleiht Andrea Lehmann eine äußere Form. Ein kurzer Abriss soll die vielschichtige Nutzung des Herdentieres aufzuzeigen, die die Lüpertz-Meisterschülerin in ihren surreal anmutenden Arbeiten potenziert:

Das Pferd hat in der Geschichte des Menschen eine ausgesprochen facettenreiche Wandlung erfahren: Wurde zunächst vor allem das Fleisch des Wildtieres als Nahrungsquelle begehrt, war es über viele Jahrhunderte hindurch eine entscheidende Komponente erfolgreicher Kriegsführung. Zugleich schätze man das lebende Exemplar mehr und mehr als Arbeitstier, das dem Menschen die schwere körperliche Arbeit erleichterte. Seine Domestizierung erlaubte, neben dem Gebrauch als Transportmittel, vor allem seinen Einsatz im Bergbau und in der Landwirtschaft als Krafttier. Mit der endgültigen Überführung des Pferdes in den Haustierstand verbinden wir das Pferd hierzulande primär als Reit- und Sporttier, Luxusgut sowie als Symbol für Erotik.

 In der Lehmann’schen Welt verbinden sich Mensch und Tier zu der utopischen Vorstellung eines gleichberechtigten Miteinanders. Merkwürdige Mischwesen, die den Kopf eines Pferdes tragen, sind mit einem menschlichen Leib und seinem aufrechten Gang verbunden. Zu der körperlichen Symbiose kommt ein allzu bekanntes Rollenspiel hinzu, das die Funktion des Gebarens lesbar werden lässt. Denn Umgebung und charakteristische Kleidung machen das Verhalten bis zu einem gewissen Grad dekodierbar. Die ironische Brechung und der subtile Humor, die stets in Lehmanns Malereien mitschwingen, zeigen sich explizit in dem Ausstellungstitel "You have a problem" und in ihren Bildtiteln. Damit steht das Wort der visuell düsteren Atmosphäre diametral entgegen und gibt die teilweise skurrilen Geschichten und Mythen aus vergangenen Zeiten wieder, die ins märchenhafte gleiten. Dieser stilbildende Bruch zeigt aber auch die Ambivalenz der Lesbarkeit ihrer Bilder.

Denn obwohl es durch die Positionierung der Protagonisten auf besagtem Bild auf den ersten Blick klar erscheint, wer hier „ein Problem hat“, sind es doch die visuellen Codes, auf die sich das menschliche Gehirn verlässt. Die bestimmte Konstellation, die Verteilung der Akteure im Raum, ihre Haltung, Kleidung und Umgebung suggerieren dem Auge des Betrachters eine typische Arzt-Patientensituation. Derjenige in „männlicher Straßenkleidung“, der scheinbar nervös die Hände im Schoss hält und seitlich am Schreibtisch auf einem Stuhl sitzt, sucht den Herrn im weißen Kittel – das Sinnbild des Arztes schlechthin, den Lehmann frontal vor dem Schreibtisch platziert und ihn somit als Besitzer ausgibt, hilfesuchend auf. Durch weitere Attribute lässt sich eine zeitliche Präzision vornehmen: Das Habit der Krankenschwester, die eilfertig einen Block in den Händen hält und als einzige im Raum steht, was wiederum ein Indiz ihres Ranges ist, da sie sich nicht setzen darf und nicht auf Augenhöhe kommuniziert, verweist auf den Beginn des 20. Jahrhunderts.



Wäre da nicht der Pferdekopf des vermeintlichen Patienten, der die Verhältnismäßigkeiten in Frage stellt. Ist nicht derjenige, der einen Menschen mit Pferdekopf sieht, als „verrückt“ zu bezeichnen? Handelt es sich nicht gar um ein Zimmer aus der Psychiatrie, in dem der Insasse Doktor spielt? Führt die Krankenschwester lediglich Protokoll über das Ausmaß der Wahnvorstellungen des Patienten. Damit dreht sich auch die Interpretation ihrer aufrechten Haltung. Diese drückt in dieser Sichtweise Überlegenheit aus; ihr Überragen steht für einen höheren Rang in der internen Hierarchie.



Andrea Lehmann verarbeitet in ihrer Malerei auch die romantische Auffassung über den Naturbegriff des 18. und frühen 19. Jahrhunderts als zentrales Thema, in dem der außermenschlichen Natur besondere Aufmerksamkeit zuteil wurde. Im Fokus der Betrachtung stand die Frage nach dem Ursprung sozialer Gefüge. Der ›Natur‹ wurden verborgene, rational nicht fassbare Zusammenhänge, Korrespondenzen und Wechselwirkungen unterstellt. Man begriff den Kosmos als homogenes Ganzes, der die Grenzen zwischen den ehemals disparaten Polen von Körperlichem und Spirituellem aufhebt. Es wird der Monismus zelebriert, in dem der Mensch in die Natur eingebunden ist, die ihn maßgeblich prägt, denken Sie z.B. an die Lehre des Mesmerismus.



Andrea Lehmann übersetzt diese Vorstellung von der Welt ins Bildnerische. Dabei bedient sie sich der Inhalte und literarischen Strategien der Fantastik und der Gothic Novel, deren Figuren sich stets in exzentrischen Gemütszuständen wie Halluzination, Angst, Fieber und Alptraum befinden oder deren fatale Neugierde sie ins Verderben stürzt. Der ›fantastische‹ Mensch scheint die anthropologischen Erkenntniss der Aufklärung zu durchkreuzen oder gar zu leugnen. Er wird als Agent oder Patient eines alternativen Menschenbildes dargestellt, indem er als Wahnsinniger, Träumer, Halluzinierender oder Monster auftritt. Lehmann adaptiert dabei die in der Romantik weit verbreitete Auffassung, dass der Wahnsinn ein ›höheres Sehen‹ ermögliche. Diese Ansicht wird später von den Surrealisten geteilt, die in der Hysterie die größte poetische Entdeckung des 19. Jahrhunderts erkannten. 



Andrea Lehmann benötigt in wechselseitiger Abhängigkeit das Reale, um die Welt des Fantastischen zu kreieren. Ein Ausgangspunkt der Fantastik ist immer die eigene, uns umgebende Kultur, die durch das Unbekannte bedroht wird. Das Irreale stellt die Kategorie des Realen auf die Probe. Der Besucher folgt der Künstlerin in eine vertraute und zugleich fremde Umgebung, in düstere Gefilde des Sehens und Denkens, an Plätze von seltsam anmutenden Ritualen und quasi-kultischen Handlungen zu Ehren selbst gewählter Götter und Religionen. Sie visualisiert Grenzüberschreitungen, die sie als Beunruhigung der Ordnung oder Inversion geltender Annahmen über die menschliche Natur vorführt. Es wird ›das Fremde‹ thematisiert, das für die Kehrseite der Kultur, für Verleugnetes, Verbotenes und Begehrtes steht. ›Das Fremde‹ ist die Bedrohung des Eigenen, bedeutet gleichzeitig aber auch Verheißung. Diese Gegensätze bedingen und befruchten einander. Es wird ›das Fremde‹ thematisiert, das für die Kehrseite der Kultur, für Verleugnetes, Verbotenes und Begehrtes steht. ›das Fremde‹ ist die Bedrohung des Eigenen, bedeutet gleichzeitig aber auch Verheißung. Diese Gegensätze bedingen und befruchten einander. Das Fantasma lässt sich nicht mit der Vernunft arrangieren, vielmehr scheitert die Vernunft dort an dem Versuch der rationalen Erklärung.



Nadia Ismail

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Andrea Lehmann
You Have A Problem
Pferde Des Konjunktivs