Filipp Rosbach, Leipzig

Spinnereistraße 7, Halle 20, Eingang D
04179 Leipzig

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In der prämierten Fotoarbeit »An Deinem Haus« spürt Andrej Krementschouk seiner russischen Heimat nach, die er verlassen hat und die kein Zuhause mehr für ihn ist. Mit eindringlichen Bildern stellt er die immer wieder aktuelle Frage nach Erinnerung und Verlust, nach emotionaler Verwurzelung und kultureller Identität: "Ich muss über diesen bescheidenen Ort, den keiner kennt, etwas erzählen, was mich betrifft…" No Direction Home.

Mein Haus. Ich bin 5 Jahre alt. Wir sind auf dem Weg durch den Wald, der zu unserem Dorf führt. Großvater, Großmutter und ich. Zuerst hatten wir den Zug nach Kalikino genommen, dann führte der Weg 10 km durch Wälder und Felder, entlang den Windungen des torfigen Flusses Linda. Es ist heiß. Auf einer Lichtung am Flussufer breitet Großmutter eine Zeitung aus: hart gekochte Eier, Salz, eingelegte Gurken. Libellen schwirren in der heißen Luft. Nach einer halben Stunde erreichen wir inmitten von einem reifen Weizenfeld unser Dorf. Niedrige graue Häuser mit holzgeschnitzten Dachgesims und Fensterrahmen, das Dach mit Teerpappe gedeckt. Der Geruch von Dampfbädern und Gärten. In der Erinnerung kommen mir die Tränen. Wie kann man das erklären? Ich kann es nicht. Was ist sonst noch lebenswert? In meiner Kindheit fürchtete ich den Tod. Der Klang der Blaskapelle auf dem Friedhof, die auf dem Asphalt gestreuten Tannenzweige, die himmelblauen Särge vor den Häusern, die bittersüßen Äpfel auf dem Weg. Dies alles erfüllte mich mit Panik und Lebensangst, die mich wochenlang verfolgte. Leben vielleicht... ja leben! Wie wir fürchten, es zu verlieren. Vergeblich. Dann ist noch die Freiheit. Ich bin elf und schlechte Noten sind alles was ich vorzuzeigen habe. Es wäre einfacher zu sterben. Ich erinnere mich, dass meine Mutter mir einmal sagte, als würde sie mir ein Geheimnis verraten: es gibt Gott. Der Aufzug in unserem Haus quietscht jeden Tag immer bedrohlicher. Er kommt hoch zur fünften Etage und dann wieder herunter. Dritte, Vierte, Fünfte, Unsere... Nein hoch zur Siebten. Gott sei Dank! Wenn du existierst, dann danke! Der Lift kommt hoch und... hält nicht in unserer Etage... Irgendwo, aber nicht in der Sechsten. Gott sei Dank! Angst. Und dann die Liebe. Ist sie nicht allgegenwärtig? Skeptiker behaupten, sie sei ein Produkt der Fantasie. Andere sagen, dass Menschen ihr Zuhause der Liebe wegen aufgegeben haben, ihre Freiheit für sie aufgeben, aus Liebe sogar bereit sind, ihr Leben zu geben. Ich hätte auch ein oder zwei Geschichten über die Liebe zu erzählen, aber es ist lange her. Ich habe sie vergessen. Der Glaube. Hat er etwas mit Gott zu tun? Oder ist er einfach das Gegengewicht auf der Waage mit unseren Ängsten, Verlusten, Krankheiten. Bedient er unseren Drang auf der guten Seite zu stehen, nach Rechtschaffenheit, Rechtfertigung? Was verstehen wir schon – nicht einmal uns selbst. Ich hatte einen Freund, der tief gläubig war. Er wollte in ein Kloster eintreten, aber da gab es noch die Sexualität und verführerische Mädchen... Einen Monat, bevor er zur Armee nach Tschetschenien musste, traten er und seine zukünftige Frau vor den Traualtar, beide 19 Jahre alt wie ich. Ich bin Trauzeuge und wie es die Tradition erfordert, wird vorher die Beichte abgelegt. Das erste mal in meinem Leben. In der orthodoxen Kirche gibt es keine Beichtstühle. Die Fragen des Priesters werden von allen ebenso gut gehört, wie die Antworten des Beichtenden. Wer hört da schon weg. Der Priester ist jung und hat einen roten Bart. Seine Frau war unsere Kunstlehrerein. Jetzt bin ich dran. Der Priester bedeckt meinen Kopf mit einem Teil seiner Robe. Wir sprechen das Gebet zur Kommunion. Seine Fragen… Meine Antworten... Da trifft es mich wie der Blitz: „Spielst du mit dir selbst, mein Sohn?“ Es schien mir als hätten nicht nur meine Klassenkameraden und meine Familie, die hinter mir standen, sondern die halbe Welt diese Frage gehört. „Was ?“ frage ich stotternd. „Selbstbefriedigung ist eine große Sünde“ sagte er erneut, „treibst du Selbstbefriedigung?“ „Nein“ erwiderte ich eilig, an die hinter mir stehenden denkend „nein, natürlich nicht!“ Ich habe vor Gott gelogen. Warum bleiben manche Dinge in unserer Erinnerung, während andere verschwinden, als wären sie nie gewesen. Was schwimmt da im großen Suppentopf unserer Erinnerung, was hüten wir darin? Mit welchen Kräutern und Gewürzen ist es abgeschmeckt? Was ist Wahrheit: Das was geschah, oder das was sich in unserer Erinnerung eingeprägt hat. Ich weiß nichts.

Publikation "Andrej Krementschouk – No Direction Home" / Kehrer Verlag, Heidelberg 2009 Deutsch/Englisch/Russisch / 112 Seiten, farbige Abb., Hardcover /Text: Boris Mikhailov ISBN 978-3-86828-056-2 / erscheint Ende August 2009

Andrej Krementschouk *1973 in Gorki, studierte Fotografie zunächst bei Ute Mahler an der Hochschule für Angewandte Wissenschaft in Hamburg und seit 2008 Meisterschüler an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. Er war Gewinner von "Gute Aussichten–Junge Deutsche Fotografie 2007/8" und hat u.a. in den Deichtorhallen Hamburg, im Martin-Gropius-Bau, Berlin, in der Drostei, Pinneberg, und im Kalmar Art Museum, Schweden, ausgestellt. Im Kunstverein Recklinghausen sind seine Arbeiten vom 5. Dezember 2009 - 31. Januar 2010 zu sehen.

Die Ausstellung ist von Dienstag bis Samstag von 11 bis 18 Uhr geöffnet. Mehr Informationen und Besuch nach Vereinbarung unter 0172. 373 11 10. Über Ihr Kommen freuen sich Josef Filipp, Michaela Rosbach und Jörg Rosbach.