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Anna Boghiguian Period of Change
22 | 10 | 2022 – 22 | 01 | 2023
Ausstellungseröffnung am Freitag, 21. Oktober 2022, 19 Uhr.

Mehrere Segel sind im Foyer gespannt. Die farbigen Leinen sind mit Zeichnungen im Rapport bedruckt. Der Siebdruck zeigt eine Gruppe von Menschen, die dicht gedrängt auf einer Kundgebung marschieren. Sie sind, altägyptischen Darstellungen ähnlich, mit großen Augen gezeichnet. Eine der Personen schlägt eine Trommel, eine andere, weiter vorne, trägt eine Fahne.

Anna Boghiguian malt politische Protestbewegungen. Es geht um Knechtschaft und Aufstand, um Tyrannei und Freiheitsdrang, um Führung und Befreiung. Boghiguian, die 2015 auf der Biennale in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde, hat armenische Wurzeln und wuchs in Kairo auf, wo die Künstlerin heute wieder lebt. Ihre Themen sind Politik und Gesellschaft, Geschichte und Literatur. Boghiguian ist eine politisch interessierte und philosophisch inspirierte Erzählerin, die Vergangenheit und Gegenwart verknüpft. Sie war eng mit dem ägyptischen Literaturnobelpreisträger Naguib Mahfouz befreundet, für den sie eine Serie von Buchumschlägen entwarf. Für ihre KUB Ausstellung beschäftigte sich Boghiguian mit den revolutionären Umwälzungen in Frankreich und den Vereinigten Staaten des 18. Jahrhunderts, mit der Geschichte der Sowjetunion, Nazideutschlands, Österreichs und Ägyptens. Die Werke wurden speziell für die Ausstellung im Kunsthaus Bregenz gefertigt. Während eines mehrwöchigen Arbeitsaufenthalts in Bregenz widmete sich Boghiguian historischen Recherchen. In den Räumen des benachbarten Postgebäudes fertigte sie zahlreiche Notizen und Zeichnungen an.

Im ersten Obergeschoss werden lebensgroße ausgeschnittene Figuren auf einem verspiegelten Schachbrett ausgestellt. An den Rückseiten sind die Silhouetten mit roten oder schwarzen Platten versehen. Ihre Vorderseiten bemalte Boghiguian mit Wachsfarbe. Die Idee für dieses Ensemble entwickelte die Künstlerin für KUB in Venedig im Frühjahr 2022. Das Kunsthaus Bregenz feierte dort sein 25-jähriges Bestehen mit einer Ausstellung in der historischen Scuola di San Pasquale, wo auch Werke von Otobong Nkanga zu sehen waren. In vorderster Reihe von The Chess Game steht die aus Österreich stammende französische Königin Marie Antoinette. Sie erscheint bunt und licht gekleidet, mit einem auffälligen Hut ihrer Modistin Rose Bertin, die ebenfalls als Figur auf dem Brett dargestellt ist. Marie Antoinettes Mutter, Kaiserin Maria Theresia, reiht sich neben ihr in das Ensemble ein. Weitere Figuren zeigen den Künstler Egon Schiele, dargestellt mit Mundschutz gegen die spanische Grippe; den in Sarajevo ermordeten habsburgischen Thronfolger Franz Ferdinand mit Schnurrbart und Jagdflinte; Ferdinand I., König von Lombardo-Venetien im 19. Jahrhundert; Theodor Herzl, den Begründer des Zionismus; Sigmund Freud und andere historische Persönlichkeiten. Im hinteren Teil des Schachbretts ist Aribert Heim zu erkennen, der für Boghiguian von zentraler Bedeutung ist. Heim, wie fast alle dargestellten Personen österreichischer Herkunft, war Lagerarzt im KZ Mauthausen und unter den Häftlingen als »Dr. Tod« bekannt. Nach dem Krieg wohnte Heim einige Jahre in Deutschland und floh anschließend nach Ägypten, wo er bis zu seinem Tod unbehelligt in einem Hotel in Kairo lebte.

Neun Figuren sind für die Ausstellung in Bregenz hinzugekommen, darunter Jean-Jacques Rousseau, Leo Tolstoi, Rudolf Steiner, Stefan Zweig, Friedrich Nietzsche und Josephine Baker. Sie schweben als bunte Schatten über dem Schachbrett.

Im zweiten Obergeschoss sind über hundert Zeichnungen ausgestellt, die Boghiguian im Vorfeld der Ausstellung anfertigte. Einige zeigen Heims Unterkunft in Kairo, andere entstanden auf Recherchereisen in Berlin, wo Heim ein Zinshaus besaß, weitere während eines Aufenthalts in Frankreich. In Versailles zeichnete Boghiguian den Abschluss des Friedensvertrags im Spiegelsaal, der den Ersten Weltkrieg beendete, und Jean-Jacques Rousseau, dessen Schriften Marie Antoinette las. Auf den Zeichnungen finden sich auch Darstellungen einer Guillotine, Szenen aus der Haitianischen Revolution oder die Rückenansicht der Freiheitsstatue. Die Figuren, die sich auf den Bildern drängen, sind karikaturhaft und expressiv, die Linien unruhig. Die Farbgebung changiert zwischen bleichem Deckweiß und leuchtendem Kolorit. Boghiguians Malweise erinnert an Honoré Daumier oder an die ausdrucksstarken Gesten von James Ensor. Viele ihrer Blätter zeigen den Kontrast von politischen Anführern und den ihnen ausgelieferten Menschen. Neben einer Karikatur Aribert Heims, dessen Zahnreihen Boghiguian malerisch verdoppelt, sticht eindrucksvoll ein Dreierporträt vor leerem Hintergrund hervor: Josef Stalin, Wladimir Lenin und Leo Trotzki in schmutzigem Schwarz und Grau.

Im obersten Geschoss befindet sich eine kreisrunde, verspiegelte Plattform. Eine Diskokugel taucht den Raum in wechselndes, farbiges Licht. An der Decke hängt das Modell einer Guillotine – ein Instrument staatlichen Tötens, das an den elektrischen Stuhl in Andy Warhols Siebdruckserie erinnert. Auch in diesem Werk verarbeitet Anna Boghiguian den von herrschenden Eliten ausgelösten Terror, das Abschlachten politischer Gegner*innen, das mit Gewalt einhergehende Konkurrieren von Ideologien und Ideen. Ein von Boghiguian verfasster Text wird rezitiert. Marie Antoinette und Jean-Jacques Rousseau tauchen darin auf, aber auch das Volk, das gegen Hunger und Herrschaft ankämpft.
Anna Boghiguian

Anna Boghiguian (1946 in Kairo geboren) ist eine ägyptisch-kanadische Künstlerin armenischer Herkunft. Sie studierte bis 1969 Politikwissenschaft und Wirtschaftswissenschaft an der American University
in Kairo. Anschließend folgte ein Studium der Bildenden Kunst und Musik an der Concordia University in Montreal und mehrere Jahre des Reisens. Seit 2010 arbeitet sie
an dreidimensionalen Settings, die sie wie Bühnenbilder in Szene setzt. Anna Boghiguian hat mehrere Bücher illustriert, darunter einen Lyrikband von Konstantinos P. Kavafis oder Buchumschläge für den Literatur- Nobelpreisträger Naguib Mahfouz.

Die Künstlerin wurde mehrfach international ausgezeichnet, zuletzt 2015 mit dem Goldenen Löwen für ihren Beitrag im armenischen Pavillon auf der 56. Biennale von Venedig. Sie lebt und arbeitet u.a. in Kairo.