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Nachdem Harald Szeemann sie und ihr „Grillhuhn“ – Video 1999 auf die 48. Biennale nach Venedig eingeladen hatte, ging alles sehr schnell mit der Karriere von Anna Jermolaewa. 20 Ausstellungen hat die junge Künstlerin, die 1970 in St. Peterburg geboren wurde und seit 1989 in Österreich lebt, allein im folgenden Jahr absolviert. Bereits in St. Petersburg hatte Jermolaewa die Kunstschule besucht und nach streng akademischen Prinzipien malen gelernt. In Wien absolvierte sie dann ein Studium der Kunstgeschichte (1990 bis 1998), von 1997 bis 2002 besuchte sie dort schließlich die Akademie der Bildenden Künste (Meisterklasse für Malerei, Graphik und Neue Medien / Prof. Peter Kogler). Im Mittelpunkt ihrer künstlerischen Arbeit stehen heute Video- und Fotoarbeiten, daneben entstehen Gemälde, in denen Jermolaewa einen stark konzeptuellen Ansatz verfolgt.

In der Ausstellung des MMK Passau wird die russische Künstlerin in ihrem Umgang mit Video, Fotografie und Installation präsentiert. Gezeigt werden u. a. die Videos „Überlebensversuche“ (2000), „Kurvenreich“ (2002) und „Singleparty“ sowie die 2003 entstandene Installation „Cabaret“.

Zentrale Themen in den Video- und Fotoarbeiten Anna Jermolaewas sind die funktionalen Strukturen von Gesellschaft, ihre sozialen Beziehungsabläufe und alltäglichen Gewohnheiten. Immer wieder geht es dabei um das Individuum im Netzwerk von diskreten Agenten der Machtausübung, die selbst nicht erkennbar und benennbar werden. „Viele meiner Arbeiten handeln von Manipulation„, sagt Jermolaewa. „Wer oder was manipuliert, bleibt dabei fast immer außerhalb des Bildfeldes. Die Machtmechanismen, die ein Individuum heute beeinflussen oder lenken, werden immer feiner und unsichtbarer.“

Viele Arbeiten Anna Jermolaewas handeln zugleich von der Relativität der Werte, von der Instabilität der Existenz in einer Gesellschaft, die genau das Gegenteil fordert: Effizienz und flexible Anpassung an sich ändernde Umstände. „Anna Jermolaewa unterläuft in ihren Videos diesen Anspruch des perfekten Funktionierens und zeigt den unliebsamen Absturz, wenn das allzu Konforme den Halt verliert...“ (Vanessa Joan Müller)

Zu einzelnen Exponaten (Auswahl)

Auch in der Videoarbeit Überlebensversuche (2000) spielen die Beschränkung der Themenwahl auf ein zentrales Motiv und deren Wiederholung und darüber hinaus die Frontalität des Bildes eine wichtige Rolle für die geistige Umleitung auf das Dahinterliegende. Vierzehn Stehaufmännchen geraten darin durch eine unbekannte Kraft in Bewegung und können diese nicht mehr stoppen. Mit steigender Bewegungsgeschwindigkeit fallen sie ins Unbekannte und verschwinden, begleitet von lauten Knallgeräuschen. Stehaufmännchen sind nicht nur Spielzeuge für Kinder, sondern fungieren auch als Symbol für das Vermögen von Problemverarbeitungen von Individuen. Was auch geschieht – ein Stehaufmännchen lässt sich durch nichts umwerfen und steht immer wieder auf, um nochmals von vorne zu beginnen. Das Video nimmt jene Eigenschaft mittels Loop-Verfahren wörtlich. Das eindringliche, beinahe schussartige Aufprallen der Figuren abseits des Sichtbaren geht, unter die Haut und wird physisch wahrgenommen. Die Puppe als verkleinerte Repräsentantin des Menschen rührt an Körperliches und schafft ein Vergleichsbild für das Agieren innerhalb sozialer Kontexte.

Eine gekonnte Neubefahrung des Terrains weiblicher Erotik und/oder Sexualität ist Kurvenreich ein 2002 entstandener dreiminütiger Viedeoloop. Die Abfolge knapp und schön ge-schnittener Fragmente zeigt ein kleines rotes Spielzeug-Sportauto, das den Kurven eines weiblichen Körpers folgt, durch eine Körperlandschaft rast, die ebenso objektiviert wie sinnlich ist. Man hört nichts als das Reibungsgeräusch der Reifen des sich über die Hautoberfläche bewegenden Wagens. Es ist fast, als ob das Auto zu einem kartografischen Mittel wür-de, das den Körper dieser Frau erfasst, deren Gesicht man nie sieht. Mit der für sie charakteristischen Leichtigkeit hinterfragt Jermolaewa auf humoristische Weise eine zum Gemeinplatz gewordene kulturelle Trope: die Sexualisierung des Automobils bzw., im Fall von Autorennen, die Hochgeschwindigkeitsverlängerung männlicher Macht (den mobilen Phallus). Was dieses elegant konstruierte Video betrifft, könnte man das rote Spielzeug-Sportauto auch als symbolischen Ersatz des männlichen Körpers interpretieren. Und da das Spielzeugauto auch für die Welt der Kinder und des Spielens steht, lässt die Einführung dieses Zeichens der „ Unschuld „ mögliche andere verstörende Konnotationen anklingen. Pressetext

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Anna Jermolaewa
Kurator: Hans-Peter Wipplinger