press release only in german

Annika Kahrs - NO LONGER NOT YET
01.02.2019 - 16.03.2019

Opening 31 Jan 2019, 6–9 PM

Mit NO LONGER NOT YET präsentiert die Produzentengalerie Hamburg die zweite Einzelausstellung von Annika Kahrs (*1984) mit ihrer neuesten gleichnamigen 8-Kanal-Video- und Soundarbeit. Im Zentrum ihrer performativen Inszenierungen steht häufig Klang als Mittel der Kommunikation – entweder instrumental oder vokal, zwischen Mensch und Tier, zwischen Akteuren auf einer Bühne oder mit ihrem Publikum.
Kahrs‘ Performances, Filme, Fotoserien und Installationen sind meist als spielerische Versuchsanordnungen aufgebaut in denen die Protagonisten ihre Positionierung untereinander immer wieder neu verhandeln müssen und zahlreiche Variationen möglich sind. Gewohnte Wege der Verständigung, Hör- und Sehgewohnheiten sowie Verhaltensmuster werden unterbrochen und müssen neu gefunden werden. In den daraus hervorgehenden Brüchen, Verschiebungen oder Missverständnissen untersucht die Künstlerin die Wechselwirkungen zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Erwartung und Erfüllung, Routine und Scheitern, wissenschaftlichen Erkenntnissen und gesellschaftlichen Bewegungen.

So thematisiert Kahrs in ihrer aktuellen Video- und Soundarbeit NO LONGER NOT YET das Ereignis von einem nicht mehr existierenden und zeitgleich noch nicht neu manifestiertem Zustand – ein liminaler Zustand, eine Schwellensituation: eine nicht mehr vorherrschende Ordnung steht einem wenngleich noch nicht etablierten System gegenüber.
Als durchgehende Videoprojektion mit über 12 Meter Länge lässt Annika Kahrs ihre neue Arbeit direkt auf der Ausstellungswand wie ein Fries abbilden. Acht parallel verlaufende und gleichzeitig überlagernde Szenen sind in verschiedenfarbiges Scheinwerferlicht getaucht und zeigen Handlungen von 14 ProtagonistInnen im Jugendalter. Formal werden hierbei jeweils zwei Szenen direkt miteinander vermischt bzw. zeitgleich in der Mitte überlagernd abgespielt.
Die Akteure schreiben gestisch mit Pinsel und schwarzer Farbe Worte auf eine Wand und übermalen diese im nächsten Schritt mit weißer Farbe, um dann mit dem jeweiligen Resultat im gleichen Vorgang wie zuvor fortzufahren. In diesem Prozess von Konstruktion und Dekonstruktion transformiert Schrift zur Form und Sprache zum Bild. In stetiger Erneuerung formuliert sich ein neues Schrift-Bild und damit eine potenziell neue Sprache.
Parallell zu denen sich circa alle 4 Minuten wiederholenden Bildszenen ertönt ein Sound. Dieser wandert während der Gesamtdauer des Werks von 17 Minuten und 23 Sekunden im Rhythmus der bildlichen Wiederholung über die vier Lautsprecherpaare entland des Raumes.
Ausgangsmaterial für Sound und Schrift ist das Lied My Generation von der britischen Rockgruppe The Who aus dem Jahr 1965, das allerdings nie in Reinform erklingt. Als eine musikalische Ikone der Jugendrebellion der 1968er Generation handelt der Song von der Suche der Jugend nach ihrem Platz in der Gesellschaft. Den Jugendlichen heute erscheint dieses Musikstück möglicherweise veraltet. Im Video nutzen sie Fragmente des Liedtextes als eigene Grundlage und formulieren daraus ihre eigenen Lyriks (verbildlicht in ihrer Malerei). Akustisch wird die Liedbearbeitung in den überblendeten Szenen in einer verlangsamten und gleichzeitig beschleunigten Version abgespielt. Einige Jugendliche greifen mittels einem DJ CDJ Player und später unter zur Hilfenahme von Höhen- und Tiefenreglern in die Songstruktur ein. Das neue Klangergebnis wurde jeweils aufgenommen und bildete im gleichen Procedere die Basis für die kommenden Szenen.
Parallel zur zunehmenden bildlichen Auflösung der Textfragmente findet prozesshaft durch zunehmendes Verlangsamen und Beschleunigen eine deutliche Verfremdung des Klangs statt. Am Ende ist neben der beschmierten Wand nur noch ein nahezu wabernder Sound wahrnehmbar. Mit dieser ästhetischen Strategie der Wiederholung und Verfremdung stellt Annika Kahrs anhand eines formalen Spannungsbogen von 15 eingefärbten Abschnitten, die fluiden, transitorischen Phasen ähneln, das Erbe vergangener Generationen der heutigen Generation diametral gegenüber.

Ergänzt wird NO LONGER NOT YET von acht kleinformatigen Screens, die die einzelnen Szenen, ebenfalls eingefärbt, aus einer anderen Perspektive dokumentieren.

Im Büroraum der Galerie ist neben zwei großformatige Farbfotografien, die während der Arbeit der Künstlerin an der drei Kanal Video- und Soundinstallation Infra Voice 2018 entstanden sind auf einem Monitor noch eine weitere Videoinstallation the lord loves changes, it‘s one of his greatest delusions zu sehen. Auch bei dieser filmischen Arbeit widmet Kahrs’ sich ihrem Interesse an der Modulation von Musik und ihrer Bedeutung in einer jeweiligen Zeit oder unterschiedlichem Kontext. The lord loves changes, it‘s one of his greatest delusions beruht auf zwei ikonischen Stücken von Julius Eastman: The Holy Presence of Joan d’Arc und Gay Guerrilla und ist im Rahmen von MaerzMusik erstmals gezeigt worden. In Annika Kahrs Adaption der Eastman Komposition spielt auf der Bühne im großen Saal in der Hamburger Laeiszhalle ein Organist auf einer Konzertorgel während sich vor ihm 26 PerformerInnen formieren, die als Pfeif-Chor teils mit und teils gegen den Orgelton anpfeifen.