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Anselm Kiefer aus einem Brief an Henri Loyrette, Direktor des Louvre, 2013:

... Der Rhein ist Teil meines Wesens aus verschiedenen Gründen:

Ich bin aufgewachsen in einem kleinen Dorf auf der anderen Seite des Rheins. Der Fluss war zu Fuß in einer halben Stunde erreichbar. Wandernd durch eine Allee von hohen Bäumen sah man schon von weitem das silbern schimmernde Band des Flusses, das zugleich Ziel, Ende der Wanderschaft und Verheißung auf ein anderes, ein geheimnisvolles Land am anderen Ufer des Flusses war. 
Es gab nicht weit davon eine Fähre, die die beiden Länder miteinander verband. Das Fährboot beschrieb eine im rechten Winkel zum Fluss verlaufende Linie und ich war immer erstaunt, dass das Boot durch die starke Strömung nicht abgetrieben wurde. Noch bevor man das schimmernde Band des Flusses sah, hörte man das durch das Wasser merkwürdig gedämpfte Geräusch der Schiffsdieselmotoren wie Herzklopfen eines riesigen Tieres, das man noch nicht sah, das aber mit seinem vollen, tiefen Klang den Auwald durchdrang.

Diese Grenze zu einem anderen Land war eine merkwürdig changierende, denn im Frühjahr mit der Schneeschmelze schwoll der Fluss gewaltig an, trat über seine Ufer und breitete sich so aus, dass der Keller unseres Hauses mit Wasser aus dem Rhein angefüllt war. Wo war nun die Grenze, in der Mitte des Flusses oder ging sie geradewegs durch unser Haus?

Es gab noch eine andere Form der Grenz-Markierung: Beim Gang zum Rhein kam man vorbei an gesprengten Bunkern der Siegfried-Linie. In den siebziger Jahren habe ich eine Reihe dieser Bunker in Holz geschnitten. Die Drucke dieser Holzblöcke werde ich nun zu neuen Rhein-Collagen verarbeiten. Die gesprengten Bunker waren im Winter die Erhöhungen in der Landschaft und dienten den Kindern als Schlittenhügel. Im Sommer wechselten wir in deren Schutz unsere Kleider, um zu schwimmen. Diese Betonruinen sind heute alle verschwunden. Die Deutschen sind Meister im Zustopfen der leeren Räume, im Verschwindenlassen der Spuren der Vergangenheit, die niemals vergangen ist.

Diese Bunker – in Frankreich gibt es sie zum Beispiel noch in der Normandie und in Bordeaux – haben mich seitdem fasziniert als Archetypen einer umgedrehten, pervertierten Architektur. Mit ihren dicken Mauern, mit ihrer Fülle an Beton erdrücken sie den Innenraum eher, als dass sie ihn schützen. Sie sind mehr als umbauter Raum. Sie sind in ihrer pervertierten Überanstrengung, ihrer Ekstase die Aufhebung ihrer selbst. Sie haben für mich in ihrer Überanstrengung etwas Mystisches.

Goethe ging durch den Auwald hinunter zum Rhein, hier fand er seine erste Liebe, Friederike Brion. Und sein Gedicht „Willkommen und Abschied“, das ich immer noch auswendig kann, war wie eine Matrix für meine eigenen späteren Abenteuer.

Kein anderer deutscher Fluss war aber Gegenstand so vieler Gedichte und Lieder wie der Rhein: Da ist das Rheingold der Nibelungen, die Rheintöchter Woglinde, Floßhilde, Wellgunde, da ist das Gedicht von Brentano „Die Loreley“, die Sage von dem zauberhaft schönen Mädchen, das den Männern zum Verderben wird und das sich deshalb von dem Felsen stürzt und dann die wunderbare ironische Version Heinrich Heines. Außerdem die schöne Rheinhymne Hölderlins, bei der er Griechenland quasi an den Rhein versetzt und „Das versunkene Schloss“ von Schlegel.


Seit den Freiheitskriegen gegen Napoleon bekommen die Lieder einen politischen Akzent, so zum Beispiel die Rheinlyrik von Schenkendorfs und von Platens. Oder Schneckenburgers „Die Wacht am Rhein“. Bei Nikolaus Beckers Lied „Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein“ wendet sich die Rheinromantik ins Reaktionäre. Stefan George, dessen Elitismus von den Nazis missbraucht wurde, schrieb das Gedicht „Der siebente Ring“. Auf französischer Seite gibt es weniger Rheinromantik. Ich erwähne Apollinaires Gedichte „Rhénanes“.

Diese verschiedenen Schichten eines großen, vielschichtigen, oft gegensätzlichen Gesanges versuchte ich nun in Holz zu schneiden. Das sperrige, widerspenstige Material Holz und das einfache Schwarz-Weiss scheinen im Gegensatz zu stehen zur Eigenart des Flusses, diesem Flüssigen, Schillernden, in tausend Farben Oszillierenden. Aber gerade der Mangel, die Beschränkung, so hoffe ich, könnte auf paradoxe Weise dem Gegenstand, dem großen Gesang, das wiedergeben, was ihm durch die Beschränkung der Mittel genommen zu sein schien.

Denn das habe ich gelernt: das Widerständige, der Mangel geben die zentrifugale Kraft auf dem Weg ins Unendliche, so wie van Gogh aus einem Mangel, aus einem Mangel an Talent am Ende seines Lebens die wunderbarsten, die ergreifendsten, die philosophischsten Werke schuf.

Anselm Kiefer

Die Ausstellung in unseren Räumen zeigt vier neue großformatige Holzschnitte. Parallel zu unserer Präsentation verweisen wir auf die Ausstellung „De l’Allemagne“ im Pariser Louvre, in der der Künstler mit weiteren Werken aus dieser Serie vertreten ist. Die Ausstellungseröffnung findet in Anwesenheit des Künstlers statt.

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Anselm Kiefer
Der Rhein