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BERNAR VENET "Random Combination of Indeterminate Lines"
Graphik & Skulptur
06.09.2019 – 26.10.2019 (im Studio)

Eröffnung am Freitag, den 6. September 2019 zwischen 18.00 und 22.00 Uhr

Zur Ausstellung erscheint ein Katalog mit 28 Seiten und 25 farbigen Abbildungen.

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Text aus dem Ausstellungskatalog
BERNAR VENET (geb. 1941 Château-Arnoux)
"Random Combination of Indeterminate Lines"
Graphik & Skulptur

RANDOM COMBINATION OF INDETERMINATE LINES
To be or Not to be
- Experimental?
- Exploratory?
- Investigational?
- Trial?
- Test?
- Pilot?
- Speculative?
- Preliminary?
- Innovative?
- Creative?
- Radical?
- Avant-garde?
- Unconventional?
Bernar Venet, Gedicht des Mappenwerks "Random Combination of Indeterminate Lines", 2018/19

In der Verbindung von Geometrie und künstlerischer Individualität beginnt der Dialog – ein Kraftakt zwischen der Härte des Materials und dem Formwillen des Künstlers.

Die Galerie Boisserée widmet sich in einer Studioausstellung einem der bedeutendsten Künstler des 20./21. Jahrhunderts. Bernar Venet, 1941 in Château-Arnoux, Frankreich geboren, hat es geschafft, eine völlig eigenständige Formensprache zu entwickeln, und gilt als einer der bedeutendsten Bildhauer der Gegenwart. Durch seine unverwechselbaren Stahlskulpturen ist er weltweit präsent. In Deutschland wurde er 1987 durch den vom französischen Staat anlässlich der 750-Jahr-Feier Berlins geschenkten 20m hohen schwarzen Metallbogen "ARC 124,5" bekannt.

Bevor Venet mit den freistehenden monumentalen Stahlskulpturen beginnt, nutzt er verschiedenste Materialien, Techniken und Medien. Er malt mit Teer auf Leinwand, mit schwarzem Lack auf Zeitungspapiercollagen, verschraubt dicke Wellpappe zu Reliefs, denen er einen einfarbigen Lackanstrich gibt, häuft Kohle zu Materialassemblagen, fotografiert, filmt, entwirft Bühnenbilder und experimentiert mit Geräuschaufnahmen und lotet so die unterschiedlichen künstlerischen Bereiche aus. 2012 verwandelt er einen exklusiven Bugatti Sportwagen in ein Kunstobjekt. Er lässt die Karosserie in den Farben von Cortenstahl mit Formeln zur Errechnung der Leistungskraft des Motors lackieren und überträgt sie auf den Innenraum des Fahrzeugs. "Künstler sein heißt zu suchen, auf die Gefahr hin, dass man sich verläuft . . . Allein auf dem falschen Weg zu sein, ist besser als mit den anderen zu gehen." (1)

1959/60 arbeitet Bernar Venet als Bühnenbildner an der Oper von Nizza und nimmt bereits 1964, 1965 und 1967 an den Ausstellungen des Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris teil. Mit Unterstützung von Arman lässt er sich 1966 in New York nieder und lernt Pioniere der amerikanischen Kunst wie Dan Flavin, Donald Judd, Robert Motherwell, Sol LeWitt, Ad Reinhardt, Mark Rothko und Richard Serra kennen und schätzen und freundet sich mit ihnen an.

1968 nimmt er an der legendären Avantgarde-Messe "Prospect 68" in Düsseldorf teil. 1971 kehrt er nach Paris zurück und entscheidet sich, auf der Suche nach dem Wesentlichen der Kunst, keine Kunst mehr zu "produzieren". Für Venet ist Kunst kein ästhetisches Vergnügen. Kunst soll nicht die Realität verschleiern. Kunst soll ausschließlich der Erkenntnis dienen. In logischer Konsequenz setzt er sein künstlerisches Schaffen aus und widmet sich der Analyse und der Vermittlung von Kunst. Er beschäftigt sich mit Mathematik und Physik, lehrt von 1974-75 Kunsttheorie an der Sorbonne Université und hält Vorlesungen und Vorträge in Europa.

1976 kehrt er nach New York zurück und beginnt wieder, künstlerisch zu arbeiten. Er beschäftigt sich – zunächst in seinen Bildern – mit elementaren geometrischen Figuren wie Geraden ("Lines"), Winkel ("Angles") und Bögen ("Arcs"), um das Thema schließlich auch in die Dreidimensionalität zu übertragen und seine ersten Stahlskulpturen zu entwickeln.

1989 kauft er eine alte Fabrik und Wassermühle in Le Muy, Südfrankreich. Heute ist dieser Ort Sitz der Venet Foundation. Wo früher Weichen für Schienen hergestellt wurden, lagert der Künstler seine Arbeiten. Werke seiner Sammlung, die er mit befreundeten Künstlern seit den 1960er Jahren getauscht hat, stellt er im Museum und im weitläufigen Park aus, der das Areal umgibt, – die Kapelle von Frank Stella, Bilder von On Kawara, Lichtarbeiten von Dan Flavin, Arbeiten von Yves Klein u.a.m.

Jacques Chirac, damaliger Oberbürgermeister von Paris, lädt ihn 1994 ein, zwölf monumentale Stahlskulpturen zu schaffen, um sie auf den Champs de Mars auszustellen. Es folgen Aufträge weltweit. 2001 wird in Château-Arnoux, seinem Geburtsort, die Kapelle Saint-Jean eröffnet, deren Glasfenster und Ausstattung von Venet entworfen wurden.

Die internationale Anerkennung bleibt nicht aus. In aller Welt werden Venet große Ausstellungen gewidmet. Zahlreiche Ehrungen und Ausstellungen werden ihm zuteil. Seine Werke sind in den bedeutendsten Museen, öffentlichen und privaten Sammlungen vertreten und stehen auf zentralen Plätzen weltweit. Venet arbeitet in Frankreich und New York. Seine Impulse und schöpferische Unruhe erhält Venet aus diesen Ortswechseln mit ihren Kontrasten. In New York bringt er seine Ideen zu Papier und erarbeitet kleine Modelle, die er dann zunächst in Frankreich, später dann in Ungarn, in harter körperlicher Arbeit ausführt. "Ganz sicher stehe ich in der Tradition der abstrakten Kunst, genauer der konkreten Kunst, einer Kunstform, die sich jeglicher Unterordnung gegenüber dem Natürlichen, dem Unwesentlichen, dem Ähnlichen, dem Transzendenten verweigert, um ein Kunstwerk zu seiner Eigenständigkeit und Besonderheit zu verhelfen." (2)

Seit seinen Anfängen, den frühen 1960er Jahren, gründet sein gesamtes Schaffen auf dem Grundsatz der Immanenz, seinem Interesse an Physik und Mathematik und seinen kunsttheoretischen Auseinandersetzungen. Immanenz bezeichnet das in den Dingen Enthaltene, das sich aus ihrer individuellen und objektiven Existenz ergibt. Venet interessiert genau dieses, die dem Gegenstand innewohne Eigenschaft, die nicht durch Interpretation hergeleitet worden ist. An mathematischen Formeln und Symbolen fasziniert ihn, dass sie e i n e Bedeutung haben. Seine Kreisbögen ("Arcs") verdeutlichen das sehr konsequent. Der Werktitel gibt in minimalistischer Weise darüber Auskunft, wieviel Grad der Ausschnitt dem vollen Kreis des Bogens entspricht.

Die Linie bestimmt als Thema sein künstlerisches Schaffen. Sie ist in seinen Stahlskulpturen der Gegenstand, mit dem er sich mit den Phänomenen Zeit, Raum und Bewegung auseinandersetzt. Über die streng geometrischen Geraden, Winkel und Bögen gelangt er zur Beschäftigung mit der freien Linie, die nicht mathematisch bestimmt ist. Er nennt sie "ligné indéterminée", unbestimmte Linie. Es entstehen nun unregelmäßige Spiralformen und stählerne Linienknäuel – ein Kraftakt zwischen der Härte des Materials und dem Formwillen des Künstlers. Für Venet verkörpern sie die "Energie atomischer Masse".

In der Erkenntnis, dass es keine ideale Anordnung gibt, lässt er den Zufall "spielen". Dabei geht es im Wesentlichen darum, den Faktor der Unbestimmtheit als Arbeitshypothese einzuführen. Gegensätzliches, System und Zufall werden in einem Gestaltungsprozess vereint. "Die Bestimmtheit der geraden Linie und das Unbestimmte des Zufalls konnten koexistieren. Ich nenne diese Arbeiten 'Accidents' (Un- oder Zufälle), und ich halte sie für mit das Wichtigste in meiner Arbeit. Denn es ist eine sehr radikale Geste. Zuerst lächelt man vielleicht darüber, aber dann eröffnet sich ein theoretischer Horizont, der einen tieferen Zusammenhang sichtbar macht. Ich hätte die 'Accidents' auch 'Catastrophes' nennen können. Beides ist miteinander eng verbunden. Und sie treffen sich mit aktuellen mathematischen Konzepten. Die großen Mathematiker heute sprechen von Zufällen und Katastrophen, siehe auch die Chaos-Theorie. Diese neuen Konzepte lassen aleatorische, also vom Zufall abhängige, Elemente, Unvorhersehbares und Komplexes innerhalb der Mathematik zu. Es ist eine Art Störung, die Begegnung eines wohlgeordneten Elements mit einem unerwarteten Ereignis, und alles zusammen schafft etwas Nicht-zuvor-Bestimmbares. Diese mathematische Definition trifft erstaunlicherweise exakt auf meine Arbeit zu. Es ist schon merkwürdig festzustellen, dass schon meine frühesten Arbeiten auf mathematischen Erkenntnissen basierten und dass ich heute auch wieder darauf zurückkomme – obwohl ich auf einem scheinbar völlig entgegengesetzten Gebiet arbeite." (3)

Venet fotografiert seine Skulpturen von mehreren Seiten. Nach dem Fotografieren entstehen die großformatigen Zeichnungen. Sie dienen nicht als Entwurf, sondern zeigen die Skulpturen als das Entstandene. Die Zeichnung veranschaulicht, was das Auge nur sukzessive im Umschreiten des plastischen Werks wahrnimmt, nämlich eine ungeheure Formenvielfalt. Für Venet sind die Zeichnungen wie sein graphisches Œuvre niemals Illustrationen seines plastischen Werks. "Das sind kleine Landschaften, die ich sehe und jetzt zeichne, sie helfen mir, das Werk zu reflektieren."

Bei dem der Ausstellung den Namen gebenden Mappenwerk "Random Combination of Indeterminate Lines" handelt es sich um Bernar Venets jüngste druckgraphische Arbeit. Es enthält sechs Farbradierungen und Venets handschriftliches Gedicht "To be or Not to be". Alle einliegenden Arbeiten sind vom Künstler signiert und betitelt. Bernar Venets herausragende Stellung innerhalb der zeitgenössischen Kunst beruht auf seinem sehr vielseitigen Werk, das er konsequent weiterentwickelt.
"Das Wort 'Utopie' wird nur von jenen in den Mund genommen,
denen es an Phantasie, Überzeugung, Willensstärke und Energie fehlt." (4)

Mona Fossen, Köln Juli 2019

1 Bernar Venet, Retrospektive 1963 – 1993, Ausstellungskatalog Musée d'Art Moderne et d'Art Contemporain Nice, 25. Juni – 12. September 1993, Wilhelm-Hack-Museum Ludwigshafen am Rhein, 25. September – 7. November 1993, S. 51 2 Bernar Venet, System und Zufall, Order and Chance, Ausstellungskatalog der Stiftung Kunst und Kultur e.V. Bonn anlässlich der Ausstellung Bernar Venet, System und Zufalle im MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg, 9. September - 28. Oktober 2007, Wienand Verlag, Köln 2007, S. 61 3 Kunst begegnet der Mathematik, Ein Gespräch von Amine Haase, Kunstforum, Band 136, 1997, Gespräche mit Künstlern, S. 310 ff 4 Bernar Venet, System und Zufall, Order and Chance, Ausstellungskatalog der Stiftung Kunst und Kultur e.V. Bonn anlässlich der Ausstellung Bernar Venet, System und Zufalle im MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg, 9. September - 28. Oktober 2007, Wienand Verlag, Köln 2007, S. 67