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Die Ausstellung vereint künstlerische Positionen, die Schwellensituationen auf unterschiedliche Weise thematisieren.

Die Polaroids des Amerikaners Mike Brodie aka The Polaroid Kidd (geb. 1985), der im Alter von 18 Jahren drei Jahre durch ganz Amerika reiste und in dieser Zeit Obdachlose, Punks und Menschen mit alternativen Lebenskonzepten fotografierte, scheinen den Exzess und die Exzentrik des Augenblicks zu zelebrieren, der ein Leben fern normativer Regeln und eine grenzenlose Freiheit verspricht. Doch die düster-melancholische Stimmung der Aufnahmen, die meist ernsten Gesichter der Protagonisten wollen nicht recht zu den Verlockungen der völligen Selbstbestimmung passen, vielmehr gemahnen sie wie ein memento mori an die Zerbrechlichkeit eines gelebten Traums. Brodies perfekt gewähltes Medium des Polaroid kann als formales Äquivalent der psychischen und physischen Erfahrung dieses modernen Nomadentums gewertet werden: Vom Augenblick des Auslösens kristallisiert sich auf dem leeren Fotopapier Stück für Stück die Realität des Augenblicks heraus, der, sobald gebannt, bereits der Vergangenheit angehört. Ähnlich einer Utopie, die durch ihre Fiktion existiert und in dem Moment, in dem sie gelebt wird, stirbt.

Selbst Teil einer Gesellschaft mit nonkonformem Lebenskonzept, taumelt Nan Goldin (geb. 1953) gleich den Autoren der Beat Generation durch ihre Welt, die zwischen Sex, Drugs and Rock n’ Roll verortet ist und die durch die menschliche Sehnsucht nach Autonomie über das eigene Leben und den latenten Wunsch, die Beschränkung des Normalen zu überwinden, die Schwelle herüber in eine andere Gesellschaft temporär durchlässig erscheinen lässt. Gleichzeitig erzählt sie in ihren düster-realistischen Fotografien Balladen des Lebens mit allen Facetten des Daseins. Mit der Künstlerin blicken wir in eine verborgene Welt, die menschliche Makel ohne Tabu offen legt. Sie offeriert statt des distanzierten Blicks der dokumentierenden Fotografin Aufnahmen aus ihrem engsten Umfeld in unbeschwerten Momenten sowie in Augenblicken tiefer Verletzlichkeit, in denen stets die Fragilität eines menschlichen Lebens hindurch scheint. Die Amerikanerin hebt den Dualismus zwischen äußerlicher Freiheit und Gefängnis der eigenen Gedanken, ausgelebten Wünschen und heimlichen Obsessionen sowie Sucht und Hoffnung und schließlich Sein und Tod auf und vereint diese Klüfte in ihren Motiven.

Lucinda Devlin (geb. 1947) beschäftigt sich mit der Macht von Räumen, deren Nutzung, örtliche Position, geografische Lage sowie ihre Ausstattung untrennbar mit einer Botschaft verbunden sind und damit eine bestimmte Bedeutung konstruieren. Die glänzende Oberfläche der akkurat in Szene gesetzten Omega Suites visualisiert eindringlich die auratische Kraft bestimmter Örtlichkeiten. Allein das Objekt wie z.B. eine Bahre, auf der die ‚Death Candidates’ die Schwelle vom Leben zum Tod überqueren werden, versinnbildlicht im menschenleeren Raum den ungleichen Kampf der moralpolitischen Maschinerie Amerikas und des ihm ausgelieferten menschlichen Schicksals. Ihre statische Perspektive, die zentrierte Ausrichtung auf das funktionale Arrangement, überzieht die emotional besetzten Räume mit einer sterilen Aura. Mit dem Auge der Fotografin verwandeln sich Orte des Schreckens in kühl-schick anmutende Hochglanzprints aus der Bilderwelt trendgebender Magazine, die man ob ihrer distanzierten Ästhetik bestaunt und gleichgültig durchblättert. Die sophistische Verknüpfung der titelgebenden Begriffe Omega (letzter Buchstabe des griechischen Alphabets) und Suite spiegelt die Ambivalenz des Dargestellten wider und re-subjektiviert die Wahrnehmung des vermeintlich anonymisierten Tötens. Die moralische Spannung, welche aus den Fotografien erwächst, findet ihre literarische Entsprechung in Kafkas Erzählung „In der Strafkolonie“, die über der Besessenheit eines Offiziers von der Perfektionierung einer Tötungsmaschine berichtet und die saubere, maschinelle Tötung des Menschen impliziert, der sich über den Menschen erhebt.

Den Ausgangspunkt der Werke des Amerikaners mit chinesischen Wurzeln Michael Zheng (geb. 1965) bildet der performative Akt, den der Künstler selbst als „center of all my work“ bezeichnet und der synonym für eine ständige physische wie psychische Aktion steht. Dabei ist seine Arbeit meist konzeptueller Natur und findet ihre künstlerische Ausprägung häufig in ortspezifischen Installationen und Eingriffen. Skulpturale Werke und Videos erweitern das Repertoire und Zhengs Hauptinteresse, die Erkenntnis und Sensibilisierung für die Wahrnehmung von Realität, die durch Phänomenologie, kulturelle und politische Prägung beeinflusst wird. In dem Video Groundbreaking vereint er die Thematisierung dieser emotionalen Schwelle mit formalen Aspekten der Grenzüberschreitung. Das Publikum erlebt in Groundbreaking, der Dokumentation einer kontrollierten Erdbestattung in vivo, die latente und dem Leben entgegenstehende Bedrohung durch den Tod sichtbar und fühlbar mit. Hinter der Vergegenwärtigung der Angst vor dem Tod schimmert jedoch die Unsicherheit über die Beherrschung des Lebens als fragiles Konstrukt äußerer und innerer, körperlicher und seelischer Grenzen hindurch. Die Arbeit Utopia offenbart die formale Transformation vom performativen Akt des Buchabschleifens hin zur eigenständigen Skulptur. Von Thomas Morus’ bekanntem Buch bleibt lediglich der Titel der Zukunftsvision erhalten. Der „Unort“ wird damit zum individuellen Ort im Kopf und unterscheidet sich durch die Fantasie des Publikums von der realen Welt. Aufgrund der Größe des Objekts muss man sich als Betrachter der Utopie körperlich nähern, um seine Beschaffenheit zu erfassen. Mit dem Erkennen des Titels kommt das Begreifen der Möglichkeit, der realen Welt allein kraft der Fantasie temporär zu entfliehen. Das scheinbar zu große Podest wird zum Träger eigener Gedanken. Utopia changiert zwischen poetischer Eutopie und destruktiver Distopie und ist ein Sinnbild der menschlichen Möglichkeit, sich in Gedanken stets zwischen Fluch und Segen zu bewegen.

Nadia Ismail

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BROKEN LINES
Mike Brodie, Lucinda Devlin, Nan Goldin, Michael Zheng
Kurator: Nadia Ismail