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Carnivalesca - Was Malerei sein könnte

6.3. – 2.5. 2021

Teilnehmende Künstler*innen: Firelei Báez, Semiha Berksoy, Anna Betbeze, Anna Boghiguian, Hugo Canoilas, Beatriz González, El Hadji Sy, Donna Huanca, Helen Johnson, Lee Kit, Victor Man, Thao Nguyen Phan, Khalil Rabah, Raphaela Vogel u.a.

„Durch die Kunst nur vermögen wir aus uns herauszutreten und uns bewusst zu werden, wie ein anderer das Universum sieht, das für ihn nicht das gleiche ist wie für uns und dessen Landschaften uns sonst ebenso unbekannt geblieben wären wie die, die es möglicherweise auf dem Mond gibt." (Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, 1913)

Mit dieser Ausstellung wollen wir einen Dialog mit einer traditionellen Kunstform führen – mit der Malerei. Für unsere Annäherung an sie verwenden wir das Wort Karneval, weil es Ausgelassenheit und Freude bedeutet, hinter ihm zugleich aber auch eine gewisse Unsicherheit, ja, sogar Melancholie aufscheint. Der Karneval ist eine ursprünglich westlich-christliche, bis in die Antike zurückreichende Zeit des Feierns und hat auf der ganzen Welt unzählige synkretistische und kulturelle Transformationen erlebt. Seine Interpretationen stellen ihn als eine soziale Einrichtung dar, in der die edleren Funktionen des Denkens und der Seele zugunsten eines „grotesken Leibs degradiert"1 sind, welcher der Erneuerung der Gesellschaft und der Welt dient. Im Karneval gibt man Neigungen nach, die scheinbar die soziale Ordnung bedrohen, letztlich aber doch soziale Normen festigen. Als soziale Transformation oder auch als Instrument unterschiedlicher Gruppen lenkt der Karneval die Aufmerksamkeit auf Konflikte und Missverhältnisse. Wir hoffen, diese Bedeutung auf eine Diskussion über zeitgenössische Malerei übertragen zu können.

Die Malerei in der westlichen Welt scheint von einer Reihe unausgesprochener Regeln beherrscht zu werden. Sie begrenzen den Einfluss, den sie in unseren ästhetischen Diskursen haben könnte. Der einflussreiche Kunstkritiker Clement Greenberg hatte eine äußerst rigide Vorstellung von ästhetischer Erfahrung und ihrer Autonomie. Sie wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zum Paradigma der westlichen Malerei und besteht bis heute latent fort. Um es klar und deutlich zu sagen: Greenberg lehnte die soziale Rolle der Kunst grundsätzlich ab. Die Ästhetik des autonomen Kunstwerks, was Benjamin H. D. Buchloh Greenbergs "konservativen Formalismus"2 genannt hat, beeinflusste sowohl die Vorstellungen vom Zweck der Malerei als auch ihre Rezeption. Die Wirkungen, die von einer solchen Malerei ausgingen, prägten dabei in ganz wesentlicher Weise den Kunstmarkt, und sie tun das bis heute.

Wenn es um den Diskurs der Malerei geht, scheint sich im westlichen Kontext eine reduktionistische Konzeption durchzusetzen. Die Reduktion ist vielleicht die älteste konzeptuelle Obsession der westlichen Welt. Bei ihren anthropozentrischen und eurozentrischen Vorstellungen vom Subjekt und seinem Engagement in der kulturellen Produktion greift sie auf jahrhundertealte ererbte Individualisierungsprozesse zurück, wobei es ihr um Kohärenz, Zusammenhalt oder Einfachheit geht. Dem können wir die Idee der Diversität von Erfahrung entgegensetzen wie die Idee einer Vielfalt in der Gesellschaft und ihren sozialen Strukturen sowie, mit Blick auf die Künste im Besonderen, sogar die Idee individueller Erfahrungen in der Multitude.3 Es sind gemeinschaftliche Merkmale, „hybrid, fluide, deterritorialisiert und in ständiger Bewegung", die im politischen Denken von Michael Hardt & Antonio Negri sowie dem Philosophen Paolo Virno4 entwickelt wurden. Kurz gesagt, hier greift die Vorstellung von einem instabilen Subjekt. Einem facettenreichen, polymorphen, vielfach diskursiven Subjekt, das an multiplen Schnittpunkten Gestalt annimmt und den Weg bereitet für eine neue intersubjektive Politik des Sehens von Malerei.

Wie ihr Titel schon andeutet, erweitert diese Ausstellung den Rahmen der Betrachtung, um einen neuen Blick auf die Malerei zu werfen und eine Reihe von Aspekten zur Diskussion zu stellen, die wir gemeinhin mit der Sphäre der Malerei und dem Handeln der von uns als "Maler" bezeichneten Subjekte assoziieren. Sie wird den Blick auf die Malerei erweitern und bedeutende, höchst einflussreiche internationale Künstlerinnen und Künstler wie Entwicklungen der Malerei von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart ins Zentrum der Betrachtung stellen, die in westlichen Veranstaltungsorten lange Zeit vernachlässigt wurden. Unsere Ausstellung wird wichtige Fortschritte hervorheben, die von ihnen und einer jüngeren Generation von Künstlerinnen und Künstlern gemacht wurden, die die Grenzen der Malerei weit über den bloßen Rahmen und die Leinwand ihrer Bilder hinaus verschoben und auf die Auseinandersetzung mit dem Sozialen und Politischen ausgedehnt haben. Und sie wird eine zeitgenössische Szene internationaler Malerei in der Vielfalt ihrer künstlerischen Ansätze beleuchten, die Diversität ihres diskursiven Engagements im Medium der Malerei demonstrieren und die Art und Weise, wie diese Malerei einer Vielzahl individueller Ausdrucksformen kulturübergreifend Form und Gestalt verleiht.

Auf einer ersten grundlegenden Ebene bedeutet dies, das Erbe einer in der Vergangenheit als Malerei der frühen Moderne kanonisierten Kunst in Frage zu stellen – die Werke von Künstlern, die überwiegend, wenn nicht gar fast ausschließlich, weiße Männer aus Nordamerika und Westeuropa waren. Heute anerkennen wir, dass ein solcher Blick auf die Malerei sich erheblich verändert hat durch die Kunst vieler Frauen und Männer aus allen Kulturen und allen Teilen der Welt. Ihre künstlerische Tätigkeit lässt sich nicht allein durch eine, sondern nur durch viele Kunstgeschichten begreifen, was bereits seit geraumer Zeit hegemoniale Vorstellungen von Kunst und Kunstproduktion in Frage stellt. Künstlerinnen und Künstler aus vielen verschiedenen Ländern, Kulturen und Traditionen zeigen ihre Werke heute international. Jene alte, für die westliche Kunstwelt zentrale Wahrnehmung, die ein bestimmter akademischer Kunstdiskurs fetischisierte, hat keinen Platz mehr in einer gültigen Erzählung darüber, was Malerei war und ist.

Zweitens beschäftigen sich viele Künstlerinnen, die heute als Malerinnen tätig sind, mit realen sozialen und politischen Fragen - mit solchen, mit denen sich jeder Mensch identifizieren kann. Der menschliche Körper, seine Empfindungen und alle Arten von Ängsten, die mit ihm verbunden sind, stehen wieder einmal im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit vieler Künstlerinnen und Künstler und vieler ihrer Gemälde, die heute entstehen. Von diesem Standpunkt aus fordern sie dominante Prinzipien von Abstraktion und ästhetischer Autonomie heraus, die möglicherweise heute noch genauso stark sind wie in den Tagen der klassischen Moderne. Die zeitgenössische Kunst spiegelt die Probleme wider, mit denen wir in unserem täglichen Leben konfrontiert sind: Wie wir handeln, wie wir denken und was wir glauben sollen. Im Gegensatz zu Greenbergs Thesen ist die Kunst sowohl für Künstlerinnen und Künstler als auch für Betrachterinnen und Betrachter sozial, und das besondere Medium der Malerei ist eine kritische Form, die als Mittel zur Kommentierung von Gesellschaftspolitik durchaus geeignet ist.

Schließlich wird auch deutlich, dass die Geschichte der Malerei als eine Reihe von Konflikten, Auseinandersetzungen und widersprüchlichen Entwicklungen erzählt werden muss, von denen viele bis heute in starkem Maße ungelöst sind. Jeder Versuch zu verstehen, was die Malerei sein könnte, muss dieser Komplexität sowohl in historischer als auch in zeitgenössischer Hinsicht Rechnung tragen. Diese Ausstellung beleuchtet daher die sehr unterschiedlichen Formen engagierter malerischer Praxis in gleichberechtigter Weise. Ganz im Geiste des Karnevals, der alle Hierarchien infrage stellt zugunsten einer Vielzahl von Positionen und Haltungen. Wir schlagen vor, die Malerei nicht als ordentlichen und strukturierten Diskurs zu betrachten. Was vielmehr ein solches „Medium" oder eine solche „Disziplin" im heutigen nicht-disziplinären Feld der Kunst ausmacht, ist ein karnevalesker Raum. Einer, in dem das Performative, Körper, Künstlersubjekte und ihre Gesten sowie ihre vielfältigen, globalen Geschichten und Bedeutungen formal gleichberechtigt sind.

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1 In der Terminologie von Michail Bachtin (A. d. Ü.)
2 Benjamin H. D. Buchloh, Allegorical Procedures: Appropriation and Montage in Contemporary Art, in ARTFORUM international, Bd. 21/1, September 1982, S. 43-56 und S. 47. Nachdruck in Formalism and historicity. Models and Methods in Twentieth-Century Art, MIT Press, Cambridge/Mass. 2015.
3 „Multitude“ ist ein Begriff aus der politischen Philosophie: ein nicht homogenes Beziehungsgeflecht (A. d. Ü.).
4 Zur Idee der Multitude in den Künsten, siehe z.B. Pascal Gielen, The Murmuring of the Artistic Multitude. Global Arts, Politics and Post-Fordism, dritte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Valiz Books, Amsterdam 2015.