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Mit der ersten Retrospektive der Düsseldorfer Künstlerin Chris Reinecke, die Arbeiten aus den Jahren 1955 bis heute versammelt, setzt JET die Ausstellungsreihe des Jahres 2008 fort. Die Reihe stellt KünstlerInnen vor, deren selbst gewählter oder zwangsweise geführter Lebensentwurf ihre künstlerische Praxis bedingt.

In den 72 Jahren ihres Lebens durchlief Chris Reinecke unterschiedliche Phasen künstlerischer Produktion. Jede Phase ging einher mit neuen Ausdrucksformen, teilweise eng verwoben mit gesellschaftspolitischem Engagement. Gleichzeitig sind die einzelnen Phasen aber auch durch eine "innere Logik" verbunden, die jenseits von gesellschaftlichen Entwicklungen nachvollzogen werden kann. Anliegen dieser Ausstellung ist es, die verschiedenen Werkphasen Chris Reineckes gleichberechtigt nebeneinander zu stellen und somit den Fokus auf eine eigenwillige und herausragende künstlerische Position zu richten, die bisher kaum wahrgenommen wurde. Veränderlich, unhierarchisch, nicht-linear, auf Kommunikation angelegt - so lässt sich Reineckes künstlerische Produktion von 1959 bis heute vereinfachend zusammenfassen.

In den Jahren 1959 - 1965 entwickelte Reinecke wunderbar ephemere Zeichnungen, auf denen sie Menschen, Gegenstände und ihre Umgebung darstellt. Das Interesse liegt auf dem Verhältnis der Dargestellten zueinander und ihrer Umgebung. Nicht um Standpunkte zu definieren, sondern Möglichkeiten der Beziehungen zu ermitteln. Bereits 1955 erstellt Reinecke ein Portrait ihrer Schwester, das die Schwester einerseits präzise und typisch und andererseits weit entfernt und unnahbar erscheinen lässt. Mehrere Perspektiven gleichzeitig zu ermöglichen zieht sich als Motiv durch alle Werkphasen, jedoch nicht als „anything goes“ sondern als Angebot einer differenzierten Wahrnehmung. Bald überführt Reinecke Zeichnungen von der zweidimensionalen Fläche in den Raum. Ein Schlüsselwerk für diese Entwicklung ist der Entfernungsstab von 1965, der Reinecke dazu dient, sich im Raum neu zu verorten.

Die gemeinsamen Aktivitäten mit Jörg Immendorff in der LIDL-Gruppe um 1968 – 70 waren und sind auch ein Spiegel der Studentenbewegung. Reineckes tragende Position innerhalb von Lidl blieb von der Rezeption lange ausgeblendet und wurde erst viel später, Dank der Initiative von Dr. Susanne Rennert, dem Kunstpublikum vorgestellt. Barbara John, die gemeinsam mit Susanne Rennert und Stephan von Wiese die Publikation "Chris Reinecke - 60er Jahre Lidl-Zeit" herausgegeben hat, beschreibt darin, wie „der Rückblick auf die Umbruchsphase der 68er bislang von männlichen Künstlern geprägt ist. Doch zählt gerade Reineckes konzeptueller Ansatz für eine Neudefinition des Verhältnisses von Kunst und Publikum zu den ersten, exemplarischen Beispielen, die dazu im Deutschland der 60er und frühen 70er entwickelt werden.“[1]

Das Ephemere, das allen Arbeiten Chris Reineckes eigen ist, ist auch charakteristisch für ihre Praxis nach 1970. Reinecke führte die Auflösung der Kunst exemplarisch vor. Sie arbeitete vornehmlich mit vergänglichen Materialien und der Übergang ihrer künstlerischen Praxis in politisches Engagement ist fließend. So verkörpert z.B. nun ein dünner, blauer Faden das Materielle der Kunst. Eine Zeichnung aus dieser Zeit zeigt den Umriß eines Mannes, dessen Nase und Penis durch einen blauen Faden verbunden sind.

Mitte der 80er Jahre beginnt Reinecke ihre Haltung wieder stärker zu materialisieren. Es entstehen Zeichnungen, Fotos, Texte und Lichtskulpturen. Die bei JET gezeigten großformatigen Zeichnungen, die aus wahlweise vielen, über Jahre entstandenen Lagen bestehen, können von vorne, hinten, oben und unten betrachtet werden.

Vielen Dank an Susanne Rennert und Barbara John. Mit freundlicher Unterstützung des Hauptstadtkulturfonds.

[1] Barbara John in: Chris Reinecke - 60er Jahre Lidl-Zeit, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln, 1999

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Chris Reinecke. Kunst muss sein, 1959 bis heute