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Galerie Nagel Draxler, Berlin

Christian Kosmas Mayer "Unverhofftes Wiedersehen"
09.11.2019 - 11.01.2020

Eröffnung: 08.11.2019 18:00 - 21:00

Die Romantik scheint mir vom heutigen Standpunkt aus interessant als letzte Epoche, in der das säkularisierte und emanzipierte Individuum seine metaphysische Dimension zurück zu gewinnen suchte. Als der schwedische Naturforscher Carl von Linné 1733 nach Falun reist um den versteinerten Bergmann zu begutachten, der dort in einer Vitrine ausgestellt wurde, schneidet sein anschließendes Urteil scharf wie ein Messer durch die seiner Meinung nach abergläubische Sensationsgier der lokalen Bevölkerung: “Er ist nicht versteinert, sondern nur gesalzt in Vitriol; und da sich Salz an der Luft auflöst, wird auch er im Lauf der Zeit vergehen.” Doch zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als Gotthilf Heinrich von Schubert die Geschichte des versteinerten Bergmanns in seinem Buch “Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft” in Deutschland bekannt macht, klingt sie weit weniger profan: nun liegt der Schwerpunkt der Erzählung auf dem unerwarteten Wiedersehen zwischen dem 50 Jahre unter Tage gelegenen Körper des jungen Bergmann, scheinbar völlig intakt und nicht gealtert, und seiner Verlobten, einer nun alten gebrechlichen Frau die ihn identifizieren kann. Verschiedenste Zeitlichkeiten durchdringen sich hier gegenseitig und laden die Geschichte metaphysisch auf: der konservierte Leib des Bergmanns, jung geblieben durch die Transformation in anorganische Natur, dagegen der biologische Verfall seiner gealterten Verlobten, deren Erinnerung an den Bergmann sich wiederum der Zeit zu widersetzen scheint. Und nach Schubert erkennen viele der bekannten deutschen Romantiker was für eine Sprengkraft diese Erzählung in sich trägt: E.T.A. Hoffmann, Johann Peter Hebel, Achim von Arnim, Friedrich Hebbel, sie alle bearbeiten dieses Motiv in verschiedenen Variationen und überführen es immer weiter ins Reich der Fiktion. Dem Raum des Bergwerks kommt in diesen Erzählungen eine besondere Bedeutung zu, er ist Sinnbild der eigenen Psyche in die man hinabsteigt, ein Ort an dem man den verborgenen Schichten des Unbewussten gefährlich nahe kommt. Gleichzeitig ist das Bergwerk der erste komplett künstliche und technologisierte Raum, den sich der Mensch geschaffen hat. An Höhlensysteme von Tieren haben mich die Faluner Kupferminen erinnert, als ich sie in einem schwedischen Archiv auf handgezeichneten Karten aus dem 18. Jahrhundert abgebildet fand. Ähnlich dem wie ich mir die Gänge und Bauten der arktischen Ziesel vorstelle, die sie seit Urzeiten in den harten gefrorenen Boden des Permafrost graben. Als Wissenschaftler einen solchen 32.000 Jahre alten Zieselbau tief unter der sibirischen Erde fanden, fielen ihnen Tausende an gefrorenen Samen in die Hände die das Tier damals in seinem Futterlager deponiert hatte, um sie nach dem Winterschlaf zu verzehren. Das arktische Ziesel hält den längsten und tiefsten Winterschlaf aller Tiere, 8 Monate am Stück, bei einer Körpertemperatur von -2 Grad Celsius. Das Herz hört fast ganz auf zu schlagen, die Atmung setzt minutenlang aus. Es ist als ob das Tier sich in einen Zustand zwischen Leben und Tod begibt, um die extremen Bedingungen des arktischen Winter zu überstehen, nur um im nächsten Frühjahr wiederbelebt zu werden. So ähnlich wie diesen Winterschlaf stellen sich vermutlich die Anhänger der Kryonik die Zeit vor, die sie kopfüber in mit Hilfe von Helium auf -140 Grad Celsius herunter gekühlten Stahlcontainern verbringen werden, nachdem sie als klinisch tot eingestuft wurden. Es ist der Versuch eine Grenze zu verschieben, die bis vor kurzem als unverschiebbar galt. Wenn der biologische Zerfall gestoppt werden kann, gibt es dann nicht auch berechtigte Hoffnung darauf, irgendwann in einer noch unbekannten Zukunft wiederbelebt zu werden? So wie einer der 32.000 Jahre alten Samen aus dem Zieselbau, der in einem russischen Labor reanimiert werden konnte?

Die aus diesem Samen gewachsenen Pflanzen repräsentieren ein lebendiges Stück Eiszeit das in der heutigen Natur nicht mehr zu finden ist. Gedanken an Science-Fiction-Bücher gingen mir unweigerlich durch den Kopf, als ich erstmals davon hörte, auch populär-kulturelle Referenzen von Frankenstein bis Jurassic Park. Umso erstaunter war ich über die zarte Unscheinbarkeit der Pflanzen, als ich sie erstmals vor Augen hatte. Sie gehören zur Familie der Silene. Und wieder drängt sich Carl von Linné in diesen Text, der laut Strindberg mehr Poet denn Naturforscher war. Um sein Klassifizierungssystem zu etablieren, musste er Tausende an Namen (er)finden, um all die damals bekannten Pflanzen und Tiere einordnen zu können. Einer dieser Namen war: Silene. Man geht davon aus, dass er sich auf Silen bezieht, Halbgott aus der griechischen Mythologie und Tutor des Dionysos. Eine vielschichtige Figur zwischen lächerlichem Trunkenbold und weisem Ratgeber. Als Weisheit des Silen gilt seine Antwort auf die Frage von König Midas nach der wünschenswertesten Sache überhaupt: “Es ist am besten, nicht geboren zu werden; und daneben, ist es besser, zu sterben, als zu leben;” Heute, da diese Pflanzengattung vor allem für ihre schier unvorstellbar alten Eiszeitexemplare bekannt ist, scheint ihr Name daher retroaktiv eine gewisse Ironie zu entfalten. Mag man angesichts ihrer Lebensgeschichte doch eher an den apollinischen Grundsatz denken: „Das Allerschlimmste ist, bald zu sterben, das Zweitschlimmste aber, überhaupt zu sterben.” – Christian Kosmas Mayer