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Wer russisch spricht und sich mit russischer Geschichte auskennt, wundert sich wohl, warum eine Ausstellung in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden mit dem Lenin-Zitat „Chto Delat?“ überschrieben ist. Die Frage, die übersetzt „Was tun?“ bedeutet und ursprünglich von dem russischen Autor Tschernyschewski stammt, ist der Name eines 2003 in St. Petersburg gegründeten Kollektivs aus Künstlern, Kritikern, Philosophen und Schriftstellern. Sie nehmen weltweit an Ausstellungen und Kongressen teil, oder veranstalten 48-Stunden-Seminare, bei denen die Teilnehmer zusammen essen, schlafen und diskutieren. Der Name ist nicht zufällig gewählt, sondern Programm. Im Zentrum der Aktivitäten des Kollektivs steht der Versuch, das politische Klima in Russland in den letzten zwanzig Jahren kritisch zu hinterfragen. Die Sehnsucht nach einer Auseinandersetzung mit den ursprünglichen Wert-vorstellungen des Kommunismus im Kontext des frühen 21. Jahrhunderts ist dabei unverkennbar.

Für die Ausstellung in Baden-Baden haben „Chto Delat?“ vier Singspiele, die aufwendig mit Sängern, Schauspielern und Musikern produziert wurden, in eine speziell entwickelte Ausstellungs-architektur integriert. Dort werden sie zusammen mit Wandgemälden zur Perestroika, politischen Fahnen und Installationen über die russische Seele gezeigt. Seit ihrer Gründung ist es der Gruppe gelungen, eine ganz eigene ästhetische Sprache zu entwickeln, in der sich klassische Elemente politischer Propaganda ebenso widerspiegeln wie Bertolt Brechts Lehrstücke aus den 1920er Jahren.

Zur Eröffnung der Ausstellung wird ein fünftes Singspiel der Gruppe als Konzert in Baden-Baden uraufgeführt. „Das Lehrstück vom Un-Einverständnis“, zugleich Titel der ganzen Ausstellung, folgt einem ähnlichen Prinzip wie die früheren Singspiele, in denen die gemeinsame Stimme eines Chors mehreren Einzelfiguren gegenübergestellt ist. Meist sind diese so überzeichnet, dass sie wie Karikaturen wahrgenommen werden – Schmunzeln macht sich breit unter den Zuschauern. Gerade in Baden-Baden, wo die Beziehungen zu Russland historisch und gegenwärtig stark ausgeprägt sind, scheint eine Ausstellung, welche die komplexen politischen und sozialen Verhältnisse des heutigen Russlands mit einfachen Mitteln vielschichtig reflektiert, viel versprechend.

Mit der Ausstellung Chto Delat? knüpft die Staatliche Kunsthalle Baden-Baden an die Fragestellung der Auftaktausstellung „GESCHMACK - der gute der schlechte und der wirklich teure“ an. Chto Delat? gibt eine mögliche Antwort auf die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz zeitgenössischer Kunst und damit nach der Programmatik einer öffentlichen Institution jenseits von Geschmack. Weitere Antworten und Perspektiven werden in den kommenden Ausstellungen folgen.

Werke in der Ausstellung (Auswahl)

Im Zeitraum von 2008 bis 2010 drehte das Kollektiv ein Triptychon bestehend aus drei sogenannten Singspielen, die in der Tradition der antiken Tragödie und der Brechtschen Verfremdung stehen; immer geht es in den Filmen, wo ein Chor als Repräsentant des Volkes mehreren fast überzeichneten Einzelcharakteren gegenübersteht, um Machtverhältnisse. Dabei werden gesellschaftliche und politische Verhältnisse als provisorische, veränderbare Konstruktionen dargestellt. „Perestroika Songspiel“ kreist um die Ereignisse in Russland am 21. August 1991, nachdem der Staatsstreich der reaktionären Sowjetfunktionäre gescheitert war. Das Scheitern des Putsches führte zu einer nie da gewesenen Welle öffentlicher Erregung, die die Hoffnung nährte, die Demokratie habe in Russland endgültig den Sieg errungen. Eine neue und gerechte Gesellschaft schien zum Greifen nah. In „Partisan Songspiel“ werden die Fragen nach ausgegrenzten Minderheiten zur Diskussion gestellt. Ausgehend von der gewaltsamen Vertreibung von Roma in Belgrad im Sommer 2009 konzentriert sich die Handlung auf die gegensätzlichen Meinungen von Unterdrückern und Unterdrückten. Auf der einen Seite stehen die örtlichen Behörden und mit ihnen die Großunternehmer und Kriegsgewinner; auf der anderen Seite finden sich benachteiligte gesellschaftliche Gruppen wie etwa Fabrikarbeiter, behinderte Kriegsveteranen oder Roma-Frauen. In „The Tower“ wird von der geplanten Errichtung des Okhta Center in St. Petersburg erzählt, das für die Firmenzentralen der inländischen Tochterfirmen des Gazprom-Konzerns gedacht war. Die Pläne für den 403 Meter hohen Wolkenkratzer führten zu einer der heftigsten Konfrontationen zwischen den russischen Behörden und der Öffentlichkeit.

Eigens für die Staatliche Kunsthalle Baden-Baden bringt Chto Delat? ein neues Singspiel „Das Lehrstück vom Un-Einverständnis“ als Konzert während der Eröffnung am Freitag, den 28.10.2011 um 19 Uhr zur Aufführung. Dem Chor, der Stimme des Volkes, ist ein in Baden-Baden lebender Russe gegenübergestellt, der wie ein Querulant auftritt und die Äußerung des Chors über die Beziehung von Krankheit und Normalität für vollkommen sinnlos hält. Auch einer reichen Kunstsammlerin gefällt der offenkundig politische Ansatz des Konzerts nicht, weshalb die Aufführung mit einem Eklat endet, der wiederum von den Grenzen aktivistischer Kunst am Anfang des 21. Jahrhunderts handelt. Ein Thema, das die Gruppe in mehreren Werken behandelt hat.

„Perestroika Timeline", 2009, entfaltet ein Panorama ausgewählter Ereignisse der Zeit der Perestroika. Eine schwarze Zeitleiste zeigt wichtige Figuren zwischen 1987 bis 1991, darunter Michail Gorbatschow, Boris Jelzin und Andrei Sacharow, aber auch gewöhnliche Sowjetbürger. Sie endet mit einer Auflistung dessen, „was geschehen ist“. Dem gegenüber wird dargestellt, „was hätte geschehen können“. „The Russian Woods“, 2011; Chto Delat? erkundet in der Installation, die sich wie ein Bühnenbild über mehrere Ausstellungsräume entfaltet, das kollektive Unbewusste des modernen Russland. In den „russischen Wäldern“ wirken Wesen wie der räuberische „zweiköpfige Hahn“, der Feuer speiende gierige „Ölbohrturmdrache“ und die „Ölpipelinenixe der ungestillten Wünsche“. Das „Weiße Haus“, das Regierungsgebäude auf Hühnerbeinen, beweist durch Drehungen auf Befehl seines Inhabers in jede beliebige Richtung korrekte nationale Orientierung. Dies alles wird kontrolliert von der betrunkenen, korrupten und in private Geschäfte verwickelten „Polizei für Spezialzwecke“.

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Chto Delat? 
(Tsaplya  / Dmitry Vilensky / Gluklya  / Nikolay Oleynikov ...)