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12.06.2022 – 11.09.2022

Das Etablissement der Tatsachen
von Alice Creischer

Eröffnung der Ausstellung am Samstag, dem 11. Juni um 16 Uhr

Lesung von Alice Creischer (mit ​Søren Grammel, Kurator) am Sonntag, dem 12. Juni um 15 Uhr

›​​You poor take courage. You rich take care. The earth was made a common treasury. For everyone to share!‹*

Mit der Ausstellung nimmt der Heidelberger Kunstverein Bezug auf seinen städtischen Kontext; den Wissenschaftsstandort Heidelberg, der nicht zuletzt mit der ältesten Universität im heutigen Deutschland aufwartet.

›The Establishment of Matters of Facts‹ lautete das Motto der frühen empirischen Wissenschaften. Es verkündete eine neue Autorität in der Welt: die ›Tatsachen‹. Experimentelle Forschung sollte Wahrheiten wie von allein liefern, unbeeinträchtigt von Glaubensregimen, frei von Herrschaftsinteressen. Reine Tatsachen eben. ›Reine Tatsachen‹?

Dieses zentrale Motto des 17. Jahrhunderts hat die Künstlerin Alice Creischer, Jahrgang 1960, für ihren Ausstellungstitel bewusst falsch übersetzt: Das Etablissement der Tatsachen.

Das klingt anrüchig. Aus gutem Grund: denn Creischers vielteilige Installation zeigt die normative Macht des Faktischen selbst als ein Regime, das von ökonomischen und politischen Interessen geprägt ist.

Im Zentrum der Ausstellung steht der lapidare Nachbau einer Vakuumpumpe, mittels der Robert Boyle, Wissenschaftler und Mitbegründer der Royal Society, in den 1660er-Jahren die Existenz des luftleeren Raumes bewies. Darüber geriet er jedoch in Streit mit dem Staatstheoretiker Thomas Hobbes. Denn während Boyle wahre Aussagen mithilfe technischer Apparaturen und ›neutraler Beobachter‹ (Modest Witnesses) treffen wollte, bestand Hobbes hingegen darauf, dass sich auch die wissenschaftliche Erkenntnis der Herrschaft des Absolutismus unterwerfen müsse, dem Leviathan. Er lehnte Boyles Versuche daher ab.

In diesem philosophischen Diskurs befürchtete Hobbes, dass wenn sich ein luftleerer Raum rein experimentell nachweisen ließe, also ganz ohne Rücksicht auf die Gesetze der reinen Vernunft und staatstragender Philosophie, dann wäre er auch jeder weiteren Regierungskontrolle entzogen und könnte potenziell ein politisches Vakuum provozieren – Anarchie und Bürgerkrieg. Boyle betrieb immensen Aufwand, um seine Vakuumpumpe so abzudichten, dass die eingesetzten Versuchsmäuse in ihr ersticken würden. Statt Anarchie und Bürgerkrieg erfand er den Tod im Labor.

Anhand der Stammbäume, wissenschaftlichen Klassifizierung und genetischen Codes zahlreicher Labormausgenerationen entfaltet Creischer ihre vielteilige und raumgreifende Installation. Dabei schließt sie Boyles Versuchsanordnung idiosynkratisch mit politischen Geschehnissen aus der politischen Gegenwart kurz und stellt die Mär von der herrschaftsfreien Erkenntnis selbst als Illusion aus.

Die Künstlerin lenkt die Betrachter:innen durch einen dichten Parcours von Bildern, Collagen, Objekten und chiffrierten Gedichten. Zudem liegt der Ausstellung ein Theaterskript bei, geschrieben in vier Akten und versehen mit einem ausführlichen, jedoch schwer zu entschlüsselndem Quellenapparat.

Chiffrierung und bewusster Entzug von Information prägen die Semantik der Ausstellung. Verstehen heißt aneignen, auch hier. Wissen wird nicht einfach gefunden. Was sich wissen lässt, und was nicht, dafür gibt es Bedingungen.

Zur Künstlerin:

Alice Creischer (geb. 1960) lebt und arbeitet in Berlin und gilt seit den Neunzigerjahren als eine einflussreiche Position im politischen Diskurs der deutschen Kunstszene. Lange zählte sie zum festen Autor:innenstamm der Kunstzeitschriften Texte zur Kunst und springerin.

Ausstellungen u. A.: ›Arbeit, Arbeit, nichts als Arbeit‹ (Galerie Wedding, Berlin, 2019); ›Circular Flow–Zur globalen Ökonomie der Ungleichheit‹ (Kunstmuseum Basel, 2019); ›The School of Kyiv‹ (Kyiv Biennial, 2015); ›Social Fabric‹ (Institute of International Visual Arts, London, 2012); ›Apparatus for the Osmotic Compensation of the Pressure of Wealth During the Contemplation of Poverty‹ (MACBA, Barcelona, 2008); ›documenta 12‹ (Kassel, 2007); ›The Greatest Happiness Principle Party‹ (Secession, Wien, 2001).

Als Kuratorin wirkte sie an bedeutenden Ausstellungen zur Kritik von Neoliberalismus und Kolonialismus mit: ›Die Gewalt ist der Rand aller Dinge‹ (Generali Foundation, Wien, 2002); ›Ex Argentina‹ (Museum Ludwig, Köln, 2004); ›Das Potosí-Prinzip‹ (Haus der Kulturen der Welt, Berlin, 2010/2011).

* Aus: The World Turned Upside Down, britische, gegen die Parlamentspolitik gerichtete Ballade aus den 1640er-Jahren; zuerst als Flugschrift veröffentlicht