press release only in german

ERÖFFNUNG DONNERSTAG 21. APRIL 2016, 19 UHR

„schauen sie sich meine menschenköpfe an – auch in sie habe ich diesen mittag gezeichnet der sich an uns zu einem gesicht formt der linie der augenbrauen / den backenknochen / mund und blick die sich auszudrücken beginnen sobald sie zurücktreten ins weiss und alles flüchtige sich auf dem papier verliert / sie werden dann zu dem einzelnen zu dem das licht uns blossstellt: durchbohrt uns aufgelöst von ihm / nicht maske und auch nicht person – sondern individuum: unteilbar zwischen anfang und ende gebannt / silbern die augen weit geöffnet / das gesicht symmetrisch im achsenkreuz die bildfläche füllend starren sie ihnen still entgegen: so regungslos und offen uns herausfordernd das zu sehen aus dem wir bestehen – es zeigt sich in dem was das licht von einem übriglässt / der nacht die sich in einer dunkelkammer zum tag verkehrt / schrot und korn die derart wieder licht werden / gleich wie unberechenbar abgründig wir sind wie leidenschaftlich stolz oder durchdringend wir uns geben: wir bleiben ein kontaktabzug der natur / schatten nur in ihrem leben“ text: raoul schrott.

Das Gesicht zeigt und versteckt etwas. Detlef Orlopp (1937 in Elbing/Westpreußen geboren) begann in den 1960er Jahren eine großformatige Fotoserie von Gesichtsstudien. Seinen Seestücken und Gebirgshängen vergleichbar, haben wir es dabei mit einer sachlichen Kartographie menschlicher, überwiegend weiblicher, Gesichtszüge zu tun. Es sind zeitlose analoge schwarz-weiß Fotografien, in denen er ebenso die proportio divina wie den Blickpunkt einer göttlichen Überschau vermeidet. Die serielle Erfassung der Oberfläche dieser Erde entwickelt sich parallel zur Erfassung menschlicher Physiognomien, die ein Erstaunen darüber hervorrufen, wie sich alles Vereinzelte, Vielfältige zum Typischen ausbilden kann. Die serielle Erfassung der Oberfläche dieser Erde entwickelt sich parallel zur Erfassung menschlicher Physiognomien, die ein Erstaunen darüber hervorrufen, wie sich alles Vereinzelte, Vielfältige zum Typischen ausbilden kann. Es beschleicht den Betrachter eine Ahnung des Irrglaubens vom Gesicht als Träger der individuellen Authentizität – vielmehr offenbart sich das Gesicht hier als Schauplatz eines Selbst, in dem sich Geschichte spiegelt.

Das Gesicht wird „erst zum Gesicht, wenn es mit anderen Gesichtern in Kontakt tritt, sie anschaut oder von ihnen angeschaut wird“ schreibt Hans Belting. Und so sehen wir in Orlopps Porträts Gesichter im Begriff des Angeschautwerdens. Sie zeigen nicht das „Natürliche“ im Sinne des Naturalistischen, so John Anthony Thwaites, sondern vielmehr das menschliche Antlitz als Zeichen. Die Momentaufnahme liegt in der „Natur“ der Fotografie, doch Orlopp versenkt diese Momente in einer Dauer des Sehens und Gesehen-Werdens, einer Stille, wie Orlopp sagen würde. Die Erhabenheit und Ruhe, mit der uns Gebirgsreliefs in den Fotografien entgegen kommen, vermeinen wir in den Gesichtszügen der Fotografierten wiederzufinden – nicht jedoch im Sinne eines Spiegels der Seele der Abgebildeten, sondern vielmehr als Schauplatz der elementaren Mehrdeutigkeit des Gesichts, des Menschen und der Natur. Unter dem Titel „nur die Nähe – auch die Ferne“ widmete zunächst das Museum Folkwang in Essen dem Künstler Detlef Orlopp eine umfangreiche Retrospektive, die derzeit auch im Kunstforum Ostdeutsche Galerie in Regensburg zu sehen ist. Text: Birgit Kulmer.