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Wien um 1900: Die traditionsreiche Donaumetropole steht im Spannungsfeld zwischen Konservatismus und künstlerischem Aufbruch. Im Widerstreit mit der Obrigkeit greifen Künstler wie Gustav Klimt, Egon Schiele oder Oskar Kokoschka mit visueller, sinnlicher und intellektueller Energie Tabuthemen wie Sexualität und Macht, Homoerotik, Adoleszenz und Geschlechterkampf auf. Egon Schiele wurde für seine radikal offenen Darstellungen von Eros, Leid und Tod vehement angegriffen. Adolf Loos bescherte Wien mit seinem laut zeitgenössischer Presse „obszön nackten“ Haus am Michaelerplatz einen der größten Architekturskandale. Die Ausstellung zeigt anhand von über 180 Meisterwerken der Malerei und Zeichnung die österreichische Kunst des beginnenden 20. Jahr-hunderts jenseits der Fin-de-Siècle-Romantik in ihrer kompromisslosen Modernität und der ihr bis heute immanenten gesellschaftlichen Sprengkraft.

Max Hollein, Direktor der Schirn Kunsthalle Frankfurt: „Durch die Popularisierung der österreichischen Kunst der Jahrhundertwende entstand in den letzten Jahrzehnten ein Bild, das deren tatsächliche gesellschaftliche Brisanz, deren Härten und Kanten verwischt. Die Ausstellung, für die es gelungen ist, Schlüsselwerke wie z. B. Klimts Gemälde ,Danae‘, ,Nuda Veritas‘ und ,Goldfische‘, Schieles ,Kardinal und Nonne‘, Gerstls ,Selbstbildnis vor blauem Hintergrund‘ sowie große Konvolute erotischer Zeichnungen von Klimt und Schiele nach Frankfurt zu bringen, rückt deren Radikalität in den Blickpunkt.“

Tobias G. Natter, Kurator der Ausstellung: „Im Mittelpunkt der Ausstellung stehen das Nackte und das Öffentliche als Schauplatz für die Transformation alter Zwänge und das Ausloten neuer Freiräume. Selten fanden Darstellung und Veröffentlichung des nackten Körpers so obsessiv und auf derart hohem künstlerischem Niveau statt wie in Wien um 1900. Die Skandale hierum dienen als Parameter, um Grenzen und Grenzverschiebungen bei den führenden Vertretern des Wiener Kunstaufbruchs zu beleuchten.“

Die Ausstellung „Die nackte Wahrheit“ wurde durch die GfK-Nürnberg e.V. gefördert und zusätzlich durch die Messe Frankfurt GmbH unterstützt.

Die Rahmenbedingungen der Wiener Moderne sind in weiten Teilen identisch mit der spezifischen kulturellen Situation Wiens zur Jahrhundertwende. Die traditionsreiche Donaumetropole war Anziehungspunkt kreativer Kräfte aus allen Teilen der Monarchie, deren ethnische, politische und kulturelle Pluralität die schöpferische Atmosphäre der Stadt maßgeblich bestimmte. Die Angehörigen der im Zug des starken Wirtschaftswachstums und des aufkommenden Liberalismus entstandenen großbürgerlichen Elite von Intellektuellen und Industrieunternehmern schufen als Sammler und Mäzene den materiellen Rahmen für die Erfolge der modernen Kunst. Eine ebenso wichtige Rolle kam einer kleinen Gruppe von fortschrittlichen Kritikern wie Ludwig Hevesi, Berta Zuckerkandl und Hermann Bahr zu, die sich zu Anwälten der Künstler machten und deren provokative Darstellungen vor allem des Nackten wortreich verteidigten. Die Darstellung des nackten Körpers und die Erkundung der Sexualität, die in Sigmund Freuds Entwicklung der Psychoanalyse ihre zeitliche Parallele finden, erweisen sich als aufschlussreiche Seismografen für die Standortbestimmung zwischen Tabu und Normverstoß.

Als Hans Makart, der große Historienmaler und Meister opulenter und monumentaler Ausstattungsstücke, in denen stets zahlreiche weibliche Gestalten dem Betrachter ihre körperlichen Reize (halb-)nackt und lustvoll darbieten, 1884 starb, wurde in Gustav Klimt bald ein Nachfolger gefunden. Auch in Klimts frühen Arbeiten wie dem Vorlagenwerk „Allegorien und Embleme“, das ganz in der Tradition Makarts steht, zeigt sich, wie Nacktheit, die innerhalb der Gesellschaft streng tabuisiert war, durch ihren Verweis in die Allegorie künstlerisch legitimiert werden konnte. Gustav Klimt sollte diesen Weg jedoch im Lauf der Arbeit an den Deckenfresken für die neu erbaute Universität an der Wiener Ringstraße bald verlassen und eine Neupositionierung des nackten Körpers vollziehen. Ihm lag nicht mehr an der Übersetzung eines Begriffs durch ein verabredetes Zeichen, sondern er zielte durch seine unverhohlene Darstellung nackter Körper auf die dunklen Seiten des Lebens ab. Der Widerstand gegen diesen Perspektiven- und Paradigmenwechsel war enorm und provozierte einen der größten Kunstskandale der Geschichte. Die meisten Zeitgenossen wollten in Klimts Darstellungen der drei Fakultäten Philosophie, Medizin und Jurisprudenz nur mehr – bestenfalls für ein „anatomisches Museum“ geeignete – gemalte „Unsittlichkeit“ erkennen. Die Universität nahm, nachdem sich die Gegner zu einer massiven Front formiert hatten, Abstand von dem Auftrag. Klimt bezog gegenüber seinen Kritikern mit zwei Bildern Stellung, die in der Ausstellung gezeigt werden: der berühmten „Nuda Veritas“ und dem Gemälde „Goldfische“, in dem eine von drei nackten Frauen dem Betrachter provokativ ihr üppiges Gesäß entgegenreckt. Von Klimt unmissverständlich adressiert lautete dessen ursprünglicher Titel „An meine Kritiker“. Der Streit um die Fakultätsbilder lässt sich auch als Paradigma der Auseinadersetzung eines Künstlers mit Auftraggebern und Öffentlichkeit beschreiben.

Die Entscheidung, welche Modi in der künstlerischen Darstellung des Nackten tolerierbar waren, fielen in Wien um 1900 zuallererst im Kunstsalon. In Wien beherrschten damals drei große Künstlerverbände die zentralen Ausstellungsforen: die avantgardistische Secession, das traditionelle Künstlerhaus und der Künstlerbund Hagen, der eine Zwischenstellung einnahm. Dass Oskar Kokoschka und Egon Schiele 1908 und 1909 juryfrei ihr Ausstellungsdebüt geben konnten, verdankten sie in erster Linie der Fürsprache Gustav Klimts. Die jungen „Wilden“ ernteten zwar die Früchte von Freiheitskämpfen, welche die ältere Generation ausgefochten hatte, brachen jedoch mit deren Ästhetik und kreierten einen neuen Schönheitsbegriff, der durch seine radikale Darstellung der Wirklichkeit nicht minder verstörte.

Egon Schiele thematisierte in radikaler Offenheit Eros und Tod, Schmerz und Vergänglichkeit. Die Betroffenheit, mit der er sich dem eigenen Körper nähert, unterscheidet ihn grundlegend von Klimt. Wie kaum ein anderer Künstler machte er sich selbst zum Thema und verflocht Selbstbildnis und Aktdarstellung. Bei Schiele begegnen wir einer schonungslosen Befragung des eigenen Ichs – Sexualität tritt mit schamloser Offenheit hervor, Exhibitionismus und Voyeurismus erreichen eine neue Bedeutung. Schieles Erotik hat nichts mit dem genüsslichen Wissen und der Pikanterie des Fin de Siècle gemein. Nichts mit Klimts selbstvergessenen Masturbierenden und dem männlichen Blick auf sie, der die Sicherheit und Position des genießenden Ichs nicht in Frage stellt. Ebenso wenig mit Anton Koligs zahlreichen männlichen Akten, in denen der Künstler seine Homosexualität sublimiert. Schiele lotet, wie es später auch Oskar Kokoschka tun wird, die Spannung zwischen den Geschlechtern aus, und nicht selten bricht in der Auseinandersetzung mit sexuellem Begehren Entsetzen durch. Mit seiner schonungslosen Darstellung menschlicher Gefühle macht sich Schiele zum Angriffspunkt der Gesellschaft. Seine Bilder junger weiblicher Modelle brachten ihn in den Verdacht der Kindesentführung und -schändung, der jedoch bald fallen gelassen wurde. Die dreiwöchige Untersuchungshaft bedeutete für den Künstler dennoch einen gewaltigen Schock.

Auch Oskar Kokoschka konfrontierte das zeitgenössische Publikum mit einer Welt, die alle Erwartungen von Schönheit oder glanzvoller Oberflächlichkeit negierte, und manövrierte sich damit ins gesellschaftliche Abseits. Sein Bühnenstück „Mörder, Hoffnung der Frauen“ und die dazugehörigen Illustrationen zeigen einen offenen Geschlechterkampf, der Kokoschkas spätere Auseinandersetzung mit seiner Geliebten Alma Mahler in Ansätzen vorwegzunehmen scheint.

Doch die Proteste der Öffentlichkeit richteten sich nicht nur gegen bildende Künstler, sondern ebenso gegen führende Wiener Architekten wie Otto Wagner oder Adolf Loos. Das heute zu einem der bedeutendsten Bauwerke der Moderne zählende Loos-Haus am Michaelerplatz wurde von der zeitgenössischen Kritik aufs Äußerste angefeindet und als Scheusal bezeichnet. Die Presse forderte die Behörden auf, den Bau zu stoppen und verlangte an Stelle der „obszönen Nacktheit“ eine dekorative Fassade. Aber auch Befürworter meldeten sich zu Wort und lobten die Fassade in höchsten Tönen – den oberen Teil als weich und jungfräulich, den Marmor der unteren Fassade als naiv und lustvoll wie eine „laszive Frau“.

Während das „Nackte“ in der Architektur heute unantastbar geworden ist, beschäftigen uns die Erkundungen von Körper und Repräsentation von Sexualität, wie sie von den führenden Künstlern in Wien um 1900 vorgeführt wurden, noch hundert Jahre später. Ihre Fragestellungen bleiben aktuell und interessieren auf breiter gesellschaftlicher Basis mehr als je zuvor.

Die Ausstellung ist eine Kooperation mit dem Leopold Museum Wien und wird dort anschließend vom 13. Mai bis 22. August 2005 gezeigt werden.

KATALOG: Die nackte Wahrheit – Klimt, Schiele, Kokoschka und andere Skandale. Hg. von Tobias G. Natter und Max Hollein. Mit einem Vorwort von Max Hollein und Texten von Bernd Apke, Christina von Braun, Doris Guth, Andreas Mayer, Tobias G. Natter. Deutsche und englische Ausgabe, ca. 290 Seiten, ca. 170 Farb- und 30 Schwarzweißabbildungen, Prestel Verlag, München, Berlin, London, New York 2005, ISBN 3-7913-6030-2 (deutsch), ISBN 3-7913-6031-0 (englisch)

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Die nackte Wahrheit - Klimt, Schiele, Kokoschka und andere Skandale
Kurator: Tobias G. Natter, Wien

mit Werken von Gustav Klimt, Egon Schiele, Oskar Kokoschka, Adolf Loos, Otto Wagner ...

Stationen:
28.01.05 - 24.04.05 Schirn Kunsthalle Frankfurt
13.05.05 - 22.08.05 Leopold Museum Wien