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Neue Impulse für die Auseinandersetzung mit einem der bedeutendsten deutschen Filmregisseure gibt die Ausstellung des Deutschen Filmmuseums Frankfurt „Fassbinder – JETZT“ (6. Mai bis 23. August 2015) im Martin-Gropius-Bau Berlin. Anlass ist der 70. Geburtstag von Rainer Werner Fassbinder am 31. Mai. Innerhalb von 16 ungeheuer produktiven Jahren hat Fassbinder 44 Filme geschaffen, ein dichtes Werk, das bis heute nichts von seiner Relevanz eingebüßt hat. Die Präsentation mit den drei Schwerpunkten Werkstatt, Kostüm und Bildende Kunst verdeutlicht die Geschlossenheit von Fassbinders Werk und seinen Einfluss auf die aktuelle Kunstproduktion. Die Ausstellung nimmt also eine doppelte Perspektive ein: eine historische und eine auf die Gegenwart bezogene.

Sie lädt dazu ein, anhand zahlreicher Originaldokumente Fassbinders Arbeitsweise zu erkunden und präsentiert Kreationen der Kostümbildnerin Barbara Baum. Vergleichend werden darüber hinaus Kompilationen aus Fassbinder-Filmen zeitgenössischer Kunst gegenübergestellt. Zu sehen sind Videoarbeiten von Tom Geens, Runa Islam, Maryam Jafri, Jeroen de Rijke/Willem de Rooij und Ming Wong, Arbeiten von Olaf Metzel und Rirkrit Tiravanija sowie Fotografien von Jeff Wall.

Rainer Werner Fassbinder – Werk und Arbeitsweise

Als Rainer Werner Fassbinder 1982 starb, war er gerade einmal 37 Jahre alt, und mit dem Tag seines Todes begann auch schon die Legendenbildung um diesen Ausnahmeregisseur des deutschen Nachkriegskinos. Die Schau in neun Räumen des Martin-Gropius-Bau widmet sich zu Beginn der Person und dem Schaffen Fassbinders. Dessen Arbeitsweise kann anhand zahlreicher Exponate – überwiegend aus dem Archiv der Rainer Werner Fassbinder Foundation, Berlin – erkundet werden. Auf neun Monitoren mit Ausschnitten aus Fernsehinterviews erläutert Fassbinder sein Filmverständnis – und verdeutlicht implizit auch die Methoden seiner Selbstinszenierung. Diesem öffentlichen Image wird im ersten Teil der Ausstellung ein anderes an die Seite gestellt: Originaldokumente und persönliche Gegenstände aus seinem Nachlass gewähren den BesucherInnen detaillierte Einblicke in das Lebensumfeld und die Projekte des Regisseurs. Notizen, Briefe, Kalkulationen, Skripte, Drehbücher und -pläne legen Fassbinders Arbeitsweise sowie seine persönliche Haltung offen und verdeutlichen sein strategisches und strukturiertes Vorgehen. Eine projizierte Bilderschau zeigt den Regisseur hochkonzentriert bei der Inszenierungsarbeit mit seinem Team. An Medienstationen mit digitalisierten Dokumenten können die BesucherInnen virtuell im Arbeitsarchiv des Regisseurs blättern und an einer Audiostation Auszüge seines Diktats des Drehbuchs zu dem Opus Magnum BERLIN ALEXANDERPLATZ (1979/80) hören. Exponate wie Fassbinders legendäres Designer-Sofa, seine Videokassettensammlung sowie sein Flipper-Automat geben Einblicke in sein privates Leben.

Die Kostümbildnerin Barbara Baum

Ergänzend wird in einem weiteren Ausstellungsraum das Augenmerk auf die Arbeit Fassbinders mit der Kostümbildnerin Barbara Baum gelegt. Von FONTANE EFFI BRIEST (1972-74) über DIE EHE DER MARIA BRAUN (1978) oder LOLA (1981) bis hin zu DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS (1981/82) und QUERELLE (1982) stattete Barbara Baum acht Film- und Fernsehproduktionen Fassbinders aus. Die Ausstellung zeigt 19 Kreationen Barbara Baums in Kombination mit ihren Arbeitsmaterialien, darunter das spektakuläre Silberlamé-Kleid, das Hanna Schygulla in LILI MARLEEN (1980) trägt, das zarte Spitzenkleid, das Barbara Sukowa in BERLIN ALEXANDERPLATZ (1979/80) optisch in ein unschuldiges Schulmädchen verwandelte, oder die stilisierten Uniformen von Brad Davis und Franco Nero, die sich fließend in die artifiziell-überzeichnete Matrosen-Welt von QUERELLE einfügten. Figurinen mit Stoffproben, Arbeitsdrehbücher mit handschriftlichen Anmerkungen sowie Dreh- und Anproben-Polaroids aus Baums Privatarchiv vermitteln die facettenreiche Arbeit einer Kostümbildnerin für einen Regisseur, der das Kostüm stets als essenziellen Bestandteil seines filmischen Bildes sah. Filmausschnitte, die auf eine große Leinwand projiziert werden, zeigen Baums Kostüme in Fassbinders Settings.

Fassbinders Filme und die bildende Kunst

Prägend für Fassbinders filmisches Werk sind Themen wie die emotionale Ausbeutung in Beziehungen, dysfunktionale Familien, die Ausgrenzung von Außenseitern und die Kritik an gesellschaftlichen (kapitalistischen) Strukturen. Diese vermittelt der Regisseur mit wiederkehrenden Stilmitteln wie klaustrophobischen Räumen, in denen die Figuren wie gefangen wirken, über spiegelnde Oberflächen, welche die brüchige Identität und Entfremdung der Protagonisten visualisieren oder auch über melodramatische Momente, die zwischen Emotion und Distanz changieren. Ein spektakuläres Beispiel dafür ist der „magische“ Moment der ersten Begegnung eines Liebespaares, den Rainer Werner Fassbinder im Melodram MARTHA (1973) als schwindelerregende 360-Grad-Kamerafahrt inszenierte: Die Kamera umkreist dabei einen Mann und eine Frau, sie umschlingt das Paar wie mit einem imaginären Band. Die berühmte Szene ist eine Hommage an die Illusionskraft des Kinos; sie bricht diese zugleich über die extreme Künstlichkeit der Inszenierung. Die in Bangladesch geborene Künstlerin Runa Islam dekonstruiert und verschärft in TUIN (1998) dieses Fassbinder’sche Verfahren, indem sie die Szene verfremdet wieder aufführt. In ihrer Installation steht der Besucher inmitten dreier Leinwände, zwei davon gewähren ihm einen Blick hinter die Kulissen: Dort sieht er die Kamera und die für sie im Kreis gelegten Schienen. Zusätzlich kann er selbst um eine dritte, frei im Raum hängende Leinwand schreiten und somit die Kamerafahrt körperlich nachvollziehen.

Runa Islams Videoarbeit ist eine von insgesamt fünf, die in der Ausstellung zu sehen sind und zeigen, wie sich zeitgenössische KünstlerInnen direkt und indirekt auf Fassbinder beziehen. Ästhetische Strategien, Themen und Motive aus Fassbinders Filmen haben auch Jeroen de Rijke/Willem de Rooij, Tom Geens, Maryam Jafri, Ming Wong, Rirkrit Tiravanija, Olaf Metzel und der kanadische Fotograf Jeff Wall, von dem die drei Arbeiten The Thinker (1986), Odradek Taboritskà 8, Prag, 18. Juli 1994 (1994) und The Woman and her Doctor (1980/81) gezeigt werden, aufgegriffen. Die Werke der in der Ausstellung vertretenen KünstlerInnen eröffnen eine neue Sichtweise auf Fassbinders Œuvre. Sie legen dar, was an Fassbinders Schaffen heute von besonderer Relevanz ist und demonstrieren, wie das Kino aktuelle künstlerische Medien prägt. Umgekehrt liefern die Arbeiten der zeitgenössischen KünstlerInnen Interpretations-impulse für die heutige Fassbinder-Rezeption.

Als Grundlage für den Vergleich mit den zeitgenössischen Kunstwerken führt eine Kompilation mit Ausschnitten aus Fassbinders Filmen auf drei großen Leinwänden in die wichtigsten Themen seines filmischen Werks ein und verdeutlicht zudem prägende stilistische Mittel, wie Licht, Rahmung und Blickführung.

Anlässlich der Ausstellung

Begleitend zur Ausstellung hat das Deutsche Filmmuseum Frankfurt zwei Publikationen herausgegeben: Den Ausstellungskatalog „Fassbinder – JETZT. Film und Videokunst“ sowie den Band „Film/Stoffe. Kostüme Barbara Baum“.

52. Theatertreffen - Focus Fassbinder: Parallel zur Schau im Gropiusbau stellt das Theatertreffen vom 1. bis 17. Mai, veranstaltet von den Berliner Festspielen, in seiner Focus-Reihe den Regisseur, Theatermacher und Autor Rainer Werner Fassbinder in den Mittelpunkt. Das Festival veranstaltet ein Symposium zu Fassbinder, das das Fortwirken seiner politisch-ästhetischen Position bis heute beleuchtet. Neben vier aktuellen Fassbinder-Inszenierungen an Berliner Bühnen, die das Festival zeigt, wird Volker Schlöndorffs Film BAAL (1969) mit Fassbinder in der Titelrolle zu sehen sein, verschiedene auf Bühnenstücken basierende Fernsehfilme werden gezeigt und im Delphi Filmpalast findet eine Fassbinder-Filmnacht statt.

Filmreihe

Eine Auswahl an Filmen von Rainer Werner Fassbinder zeigt das Arsenal – Institut für Film und Videokunst in den Monaten Juni bis August.