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Im Schaffen von Franz Huemer zeigt sich, wie irritierend auch scheinbar einfachste Bilder sein können. Der 1924 geborene Künstler lebt in einem ehemaligen Bahnwärterhäuschen in Feldkirch und bezeichnet sich selber als Visionär und Zwischenzeilenleser. Über die Jahre hinweg hat er ein ausuferndes Werk geschaffen, dessen Ausmass sich allerdings erst heute langsam erschliesst. Die umfassende Ausstellung im Kunstmuseum Thurgau erlaubt erstmals einen vertieften Blick in das Denkuniversum dieser aussergewöhnlichen Persönlichkeit.

Seine künstlerische Karriere beginnt Franz Huemer nach traumatischen Erlebnissen in der Kriegsgefangenschaft und Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken Mitte der fünfziger Jahre. Als Holzschnitzer schlägt er sich mit der Herstellung von Krippen und Kopien von barocken Heiligenfiguren durch. 1957 beschliesst Huemer, „sich vom Kommerzialismus“ abzuwenden. Zufällig findet er in einem Busch ein zerknülltes Papierchen mit Gebrauchsspuren. Dieses kaum handtellergrosse Fundstück wird für Franz Huemer zum Vexierbild, aus dem er die Motive für eine ganze Kreuzigungsszene herausliest. In einem jahrelangen Arbeitsprozess entsteht daraufhin das Relief „Golgotha“, das heute als erste gültige Arbeit von Franz Huemer gilt. Gleichzeitig beginnt der Künstler Wurzeln als Ausgangsmaterial zu nutzen und diese in Skulpturen zu verwandeln, teils unter Verwendung des Schnitzmessers, teils aber einfach auch nur durch das „Herausmalen“ von Figuren, die er in den Naturformen sieht.

Die Natur als Lesebuch Das visionäre Sehen und das Entschlüsseln werden zur eigentlichen künstlerischen Vorgehensweise von Franz Huemer. Oberhalb seines Bahnwärterhäuschens enträtselt er Gesteinsformationen als riesige Gottesburg. Wo andere Menschen nur einen öden Felsabbruch sehen, entdeckt der Künstler eine Darstellung der christlichen Heilsgeschichte: Die Geburt Christi, Kreuzigung, Grablegung und Auferstehung. Franz Huemer steigt zur Felswand hoch und beginnt die Figuren mit Farben herauszuarbeiten.

Mit seinen visionären Entschlüsselungen und den expressiven Wurzelskulpturen trifft Franz Huemer in den Siebziger- und Achtzigerjahren den Nerv der Zeit. Er wird entdeckt von Ernst Fuchs, einem phantastischen Realisten aus Wien, dessen Werke bis heute hoch gehandelt werden. Unter seinem Patronat kann er die Wurzelplastiken 1977 erstmals ausstellen. 1983 folgt eine Ausstellung im Kunsthaus Aarau. Später entdeckt der Ausstellungsmacher Harald Szeemann das Schaffen des Aussenseiters und zeigt es in seinen Ausstellungen „Visionäre Schweiz“ und „Austria im Rosennetz“. Im Lauf der Jahre verändern sich die Inhalte von Franz Huemers seherischen Entdeckungen ebenso wie seine Ausdrucksmittel. Zuerst steht die Arbeit mit Wurzeln, das Herauslesen von Figuren aus Naturformen im Zentrum seiner künstlerischen Tätigkeit. Die Inhalte sind stark bestimmt durch die Vorstellungswelt der katholischen Kirche. Das Zeichnen, wenn es überhaupt gepflegt wird, ist in dieser Zeit lediglich eine vorbereitende Tätigkeit für die Arbeit an der Skulptur.

Dann aber beginnt Franz Huemer die Fotografie für seine „Entzifferungsarbeit“ einzusetzen. Schon in den frühen Siebzigerjahren fotografiert er einen Wasserfleck, den er im Innern einer Wallfahrtskirche vorfindet. Mit dem Stift hält er direkt auf dem Abzug die von ihm gesehenen Formen und Figuren fest, um sie in einem nächsten Schritt als Schnitzerei auf Holz zu übertragen.

Eine entscheidende Weiterentwicklung ermöglicht dann die Verfügbarkeit von Farbfotokopierern Ende der Neunzigerjahre. Franz Huemer vergrössert seine Fotografien, die er von der Felswand hinter seinem Haus und den Bergen in der Umgebung von Feldkirch schiesst, auf dem Fotokopiergerät und beginnt diese Vorlagen zu entziffern. Felsenformationen und Berghänge öffnen sich Franz Huemer wie ein riesiges Mysterienbuch. Mit dem Zeichenstift entdeckt er auf den Fotokopien einen vielfältigen, sich ständig wandelnden Figurenschatz, in dem sich persönliches Erleben ebenso spiegelt wie die zeitlosen Mythen der Welt. Die christliche Heilsgeschichte, volkstümliche Sagen und heidnische Gottheiten vermischen sich in seinen Entschlüsselungen mit esoterischem Gedankengut. Diese zuweilen abenteuerliche Welterklärung erschliesst sich in vielen Dingen letztlich nur dem Künstler vollständig.

Diese Forschungsreisen in verborgene Welten kann man als die verrückten Fantasien eines Spinners abtun. Fruchtbarer ist es allerdings, sich von Franz Huemer wenigstens bis zu einem bestimmten Punkt ins Reich des visionären Sehens entführen zu lassen. Es ist nicht notwendig, mit dem Künstler zusammen an UFOs zu glauben oder seine Entschlüsselungen des Felsens als Reich des ägyptischen Todesgottes Osiris nachzuvollziehen. Aber es ist mehr als nur anregend, wenn in der Auseinandersetzung mit dem Werk von Franz Huemer der Glaube an die Unerschütterlichkeit des Sichtbaren auf die Probe gestellt wird. Plötzlich stellt sich die Frage, ob das, was wir sehen, doch nicht die letzte Wahrheit ist, selbst wenn wir es mit unseren eigenen Augen sehen. Und vielleicht gibt es sie doch, die visionären Seher und eine verborgene Welt hinter unserer Wirklichkeit.

Die Ausstellung „Vom sinnvollen Zufall“ im Kunstmuseum Thurgau zeigt mehr als das skulpturale Werk von Franz Huemer. Zusammen mit einer repräsentativen Auswahl seiner Entschlüsselungen auf Fotokopien bietet die Werkauswahl einen umfassenden Einblick in das bis anhin unerschlossene Denkuniversum dieses einzigartigen Visionärs. Ein neuer Film von André Beckersjürgen stellt den Menschen Franz Huemer vor, der nicht nur als Künstler, sondern auch als Stegreifdichter und Ufologe sichtbar gemacht wird.

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Franz Huemer
Vom sinnvollen Zufall
Die Welten eines Visionärs und Zwischenzeilenlesers
Kurator: Markus Landert, Lucia Angela Cavegn