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Vom 10. März bis 30. April 2006 zeigt das Kunsthaus Zürich eine extra angefertigte Videoinstallation der Schweizer Künstler Frédéric Moser und Philippe Schwinger. Ausgehend vom Abschiedsbrief Lenins an die Schweizer Arbeiter, fragt die Ausstellung «Farewell Letter to the Swiss Workers» nach aktuellen Utopien einer Gesellschaft, der es angesichts von Entsolidarisierung, Medienmacht und wirtschaftlicher Manipulation schwer fällt, eine gemeinsame Vision zu entwickeln.

Lenin lebte von 1914-17 im Exil in der Schweiz, unweit des Kunsthaus Zürich. Bevor er nach Russland zurückkehrte, um sich in der Revolution zu engagieren, schrieb er einen Abschiedsbrief an die Schweizer Arbeiter. Darin bedankte er sich für deren «kameradschaftliches Verhalten zu den Emigranten», und forderte sie auf, sich gegen den «imperialistischen Krieg» zu wehren. Motiviert von den Ereignissen in seiner Heimat schloss er mit den Worten: «Die Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg fängt an, Tatsache zu werden. Es lebe die beginnende proletarische Revolution in Europa!»

WAS FÜR EINE GESELLSCHAFT WÜNSCHEN WIR UNS? Lenins Gesellschaftsvision ist zerronnen, doch einige seiner Argumente werden im Hinblick auf die jüngsten weltpolitischen Ereignisse wieder aktuell. Hier setzt die Arbeit der Künstler Moser/Schwinger an. Ausgehend von Lenins Brief realisieren sie für den Kabinettraum im Kunsthaus Zürich eine neue Videoarbeit, die die Frage nach gesellschaftlichen Utopien wieder aufnimmt. Was für eine Gesellschaft wünschen wir uns? Und zu welcher Gesellschaftsform sind wir fähig? Das historische Ereignis liegt weit zurück und ermöglicht den Künstlern, sich aus einiger Distanz mit der Frage zu beschäftigen und sie in der Gegenwart neu zu stellen. Ihr Vorgehen ist dasselbe wie im Jahr 2003 beim «Capitulation Project» – dem Versuch einer Annäherung an das im Vietnamkrieg verübte Massaker von My Lai. Diese Video-Installation hinterfragt die Darstellung von Opfern, Tätern oder eines Akts des Grauens überhaupt. Sie endet mit der Erkenntnis, dass die historische Wahrheitsfindung zum Scheitern verurteilt ist. Bald nach Fertigstellung des Videos erhielt es durch Bilder aus dem Gefangenenlager Guantánamo plötzlich erneut traurige Aktualität.

REPRÄSENTATION DER GEGENWART IM FILM UND IN DER AUSSTELLUNG Auch in der extra für das Kunsthaus Zürich realisierten Arbeit verbinden Moser/Schwinger ein spezifisch historisches Ereignis mit aktuellen gesellschaftlichen Fragestellungen. Dabei spielen sie bewusst mit der Doppelbedeutung des Wortes «farewell letter», das nicht nur im Sinne von «Abschiedsbrief» verwendet wird, sondern auch ein Kündigungsschreiben bezeichnet – eine in Zeiten von Firmenzusammenschlüssen und Reorganisationen häufig erfahrene Realität.

Diesen sozialkritischen Ansatz verknüpfen Moser/Schwinger mit einer Reflexion des Mediums Film. Wie schon bei der Arbeit «Unexpected Rules» (2004), mit der sie die Schweiz an der Biennale in São Paulo vertraten, geht es im Kunsthaus-Projekt um Fragen von medialer Repräsentation und Vermittlung.

Frédéric Moser (1966) und Philippe Schwinger (1961) kommen vom Theater her, und dieser Hintergrund ist deutlich spürbar. Ihre Werke sind eine Mischung aus Theater, Video und Installation. Sie kreieren ein komplexes Spiel von Scheinauthentizität und subtiler Brechung, das die Besucher aufgrund seiner formalen Präzision und emotionalen Intensität in den Bann zieht.

BÖRSENINDEX-ARCHITEKTUR UND ZÜRCHER KONKRETE Wichtiger Bestandteil von Moser/Schwingers Arbeiten sind bühnenartige Einbauten im Raum. Für die Ausstellung im Kunsthaus entwerfen sie in enger Zusammenarbeit mit der Kuratorin Mirjam Varadinis ein Mobiliar aus abstrakten geometrischen Formen, das Erinnerungen an die Ästhetik der konkreten Kunst weckt, deren Kunstverständnis aber ad absurdum führt: Die Formen entstehen bei Moser/Schwinger nicht aufgrund von eigenen, streng logischen Gesetzen, unabhängig von jeglichem Bezug zur realen Welt als Form- und Farbexperimente, sondern leiten sich aus wirtschaftlichen Fakten ab – in diesem Fall aus der Grafikkurve des SMI an der Zürcher Börse Swiss Exchange 2005.

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