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GEORG BASELITZ "Veteran"
Arbeiten auf Papier
06.09.2019 – 26.10.2019

"Ich habe Graphik nie verstanden im Sinne einer Reproduktion. Das hat mich nie interessiert, ich habe sie nur verstanden als Verdeutlichung einer in Gemälden oder Zeichnungen erarbeiteten Form durch eine zusätzliche Analyse, eine Analyse, die verbunden ist mit der Technik der Graphik."
Georg Baselitz

Zur Ausstellung erscheint ein Katalog mit 98 Seiten und 100 meist farbigen Abbildungen. Für den Betrag von Euro 10 senden wir Ihnen den Katalog im Inland gerne zu. Der Katalog ist ebenfalls in der Galerie Boisserée erhältlich.

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Text aus dem Ausstellungskatalog
GEORG BASELITZ (geb. 1938 in Deutschbaselitz)
"Veteran" – Arbeiten auf Papier:

Experimente – gewagt, gelenkt, inspiriert - Zur Graphik von Georg Baselitz

Als 1958 eine große Ausstellung neuer amerikanischer Malerei in Berlin gezeigt wurde, hatte dieses Ereignis weitreichende Folgen, eine betraf Georg Baselitz. Dieser hielt am 8. Oktober 2007 eine Rede in der Royal Academy London, in der er auf den Eindruck von 1958 zurückkam: "Ich merkte schlagartig, dass Deutschland nach dem verlorenen Krieg zur Provinz geworden war und noch dazu ein Trümmerhaufen. . . Woraus ich nicht entfliehen konnte, war Deutschland und Deutscher zu sein, es haftet einem unangenehm an." Als die Mauer zwischen dem geteilten Land 1989 fiel, stellte sich die Frage nach deutscher Herkunft, Eigenart, Tradition und was damit zusammenhing von neuem. Deshalb begann Baselitz allerdings keine Laufbahn als Historienmaler, sondern integrierte subtile, eher untergründige Hinweise auf die Geschichte in sein Werk. Es sind Gemälde-Zyklus "45", der 1989 kurz vor dem Fall der Mauer entstanden ist, gefolgt von den dreizehn Holzbildwerken "Dresdner Frauen", die 1989/1990 entstanden sind. Beide Hauptwerke jener Umbruchzeit haben ihre Reflexe auch in der Graphik hinterlassen. Für jeden Monat des Jahres "45" entstand ein hochformatiger Holzschnitt, den Büsten der "Dresdner Frauen" fügte Baselitz eine Reihe von ruppigen Holzschnitten hinzu.

Wenn Bilder, Skulpturen und Graphik verglichen werden, ist zu sehen, dass die Blätter auf keinen Fall in die Tradition der Reproduktionsgraphik gehören, sondern in die Kategorie, die Adam von Bartsch, der Begründer einer systematischen Erfassung und Erforschung der Künstlerdrucke etabliert hat, nämlich "peintres-graveurs", Maler-Radierer. Dieser Begriff lässt sich natürlich auch auf Holzschnitte oder Lithographien übertragen, wenn die Blätter eigenständige Erfindungen zeigen.

Baselitz hat sich seit Beginn seiner graphischen Arbeiten gegen Mitte der sechziger Jahre stets in der Tradition der "peintre-graveurs" gesehen. Zu dieser Spezies von Künstlern gehört ganz wesentlich das Experimentieren mit Techniken, Druckvorgängen, Papieren etc. So haben es Rembrandt und Goya praktiziert und im 20. Jahrhundert Picasso und Matisse, auch Jean Fautrier und in Deutschland vor allem Ernst Ludwig Kirchner. Wenn es um die Radierung geht, werden Zustandsdrucke den Prozess der Entstehung verfolgen lassen. Wenn es um den Holzschnitt geht, kann mit Tonplatten oder mit eingefärbtem Papier operiert werden oder mehrere Platten können geschnitten und übereinander gedruckt werden. Bei Baselitz ist jede Variation zu beobachten. Als 1989/90 die "Dresdner Frauen" geschnitten wurden, kümmerte sich der Künstler wenig um die traditionelle Art, im Holzstock zu arbeiten. Die weißen Linien sehen aus, als ob sie aus der Holzplatte herausgerissen worden wären. Deshalb entstand eine Nähe zu den Oberflächen der Holzskulpturen gleicher Thematik, weil diese zerklüftete, verletzte Oberflächen aufweisen. Baselitz scheute keine Hässlichkeiten, keine Wunden, keine schmerzhaften Einschnitte in die Köpfe und ihren Hintergrund. Es kommt durch diese Behandlung etwas zum Vorschein von der Not, dem Leiden, der Frohnarbeit der "Dresdner Frauen", die sich nach der grausamen Bombardierung dieses historischen Stadt-Juwels an die Aufräumarbeiten machten.

Eine erinnernde Rückkehr an die Heimat bildete auch den Anstoß für die Serie der Graphiken zum Thema "45". Natürlich ist das Ende des Krieges gemeint, das Hans-Georg Kern, wie er damals noch hieß, als siebenjähriger Knabe erlebte. Es war eine durch und durch schwierige Zeit, die ein unbeschwertes Kinderdasein unmöglich machte. Aber Baselitz hat sich nicht an sein Kindsein erinnert, sondern Frauen, manchmal Mann und Frau im Gitter aus feinen Linien oder zwischen weißen Flecken eingefangen. Dadurch werden die Gesichter verunklärt, sie erhalten etwas Geisterhaftes, Unwirkliches. Eine mögliche Lesart dieser hochformatigen Anordnungen könnte lauten: Die Netze aus Gittern und Punkten lichten sich mehr oder weniger und geben den Blick frei auf die Menschen, die am Netz arbeiten, leiden oder in ihm verschwinden. Wie in den Holzskulpturen errichtet Baselitz ein posthumes, profanes Denkmal für "45".

Auf anderem Weg kehrte das Thema Deutschland 1999 in das Werk von Baselitz zurück. Im April dieses Jahres wurde das Reichstagsgebäude in Berlin als Bundestagsdomizil eröffnet. Um den Stand der zeitgenössischen Kunst in Deutschland vorzuführen, wurden 19 Künstlern eingeladen, einen Beitrag zur Ausstattung beizusteuern. Unter diesen befand sich Baselitz, der zwei große Leinwände schuf. Er griff auf Motive von Caspar David Friedrich zurück, die dieser entworfen hatte: "Frau am Abgrund", "Melancholie" und "Schlafender Knabe", von dessen Bruder Christian in Holz geschnitten. Baselitz benutzte als Vorlage ein Büchlein über C. D. Friedrich vom Verlag Kanter-Bücher in Königsberg, und zwar die Feldpostausgabe von 1940, bestimmt für die Soldaten im Krieg. Wie in den Gemälden wählte Baselitz eine leichte Machart, bestehend aus zarten schwarzen Strichen, begleitet von roten Rosen in der Art der Volkskunstmotive, die er vorher entdeckt hatte. Bei diesen spielte die Erinnerung an seine Kindheit in Deutsch-Baselitz eine Rolle, das in der Nachbarschaft von Wendisch-Baselitz am östlichen Rand Sachsens liegt. Hier hatten die Sorben, zu Deutsch Wenden, ihre Siedlung. Als Baselitz die Motive von C. D. Friedrich wählte, bezog er sich nicht auf die berühmten Gemälde, sondern auf die allegorischen Motive der Holzschnitte. In ihnen gestaltete Friedrich Bilder der Schwermut und Gefährdung. Indem Baselitz diese auswählte, fügte er dem Ensemble der Werke im Reichstag eine Atmosphäre hinzu, die in hellen Farben gehalten, eine Perspektive auf Drittes Reich, deutsche Romantik und den damaligen frühen Patriotismus ermöglicht.

Die deutsche Geschichte ließ Baselitz auch in den folgenden Jahren nicht los, auch wenn dieses niemals sein einziges Thema war und er, wie er selbst sagte, kein Historienmaler ist, wie dies einige DDR-Maler zu sein versucht haben – allerdings mit zweifelhaften Ergebnissen. Als Baselitz 1990 begann, Paraphrasen seiner "Helden"-Motive von 1965/66 in seine neuen Arbeiten einzublenden, begann eine Erinnerungsarbeit, die er Jahre später mit seinen Remix-Bildern fortsetzte. Weil der Druck und die Last der frühen "Helden"-Motive von ihm gewichen war, konnte Baselitz jetzt mit großer Freiheit die Motive neu durchdenken und formulieren. Als Ergebnisse aus Selbszitat, Weiterdenken, Ergänzen und ähnlichen Operationen entstanden die großen Farbholzschnitte von 1991/92 mit Titeln wie "Vier Steine", "Sechs Steine", "Sieben Steine" oder "Acht Steine". Ähnlich wie in "45" wird ein motivischer Kern variiert und mit schwarzen Steinen teilweise verdeckt. Die "Helden"-Figuren sind im grünen Fond noch erkennbar. Auch durch die "Steine" hindurch lassen sich noch Details ihrer Körper erahnen. Während die Helden von 1965/66 in einem stockenden, wie gequält wirkenden Farbduktus gemalt sind, werden die "Helden" in den Gemälden seit 1990 wie in der Graphik durch die Verwendung von Weiß, Grün und Schwarz von zu starken Emotionen befreit. Flecken oder Steine sind über die gesamte Bildfläche verteilt, so dass eine Spannung entsteht zwischen den untergründigen Figuren und den schwarzen oder weißen Flecken. Diese wird verstärkt, weil die Figuren mit leichter Hand und schnell ins Holz geschnitten sind und die dominanten Flecken oder Steine die Fläche unterschiedlich rhythmisieren, schwebend, ohne aber die Schwere, welche die Farbe Schwarz auch suggerieren könnte. Es entsteht ein Eindruck, als ob diese Oberflächenelemente aus dem Bildgrund aufsteigen und das, was die ursprünglichen "Helden"-Motive so schmerzvoll und tragisch aussehen ließen, entweichen lassen - noch sichtbar, aber nicht mehr bedrohlich.

Nach dem Wiederauftauchen der Figuren von 1965/66 seit dem Beginn der neunziger Jahre tat Baselitz 2005 einen überraschenden, für manche Beobachter unverständlichen Schritt, als er seine Remix-Bilder-Serie begann. Sein neues Verfahren nannte er Remix mit einem Begriff aus der populären Musikkultur, er meinte das Erneuern oder Variieren vorhandener Musiktitel. Mit dieser Methode konnte Baselitz sein eigenes Werk von neuem durcharbeiten, prüfen und virtuos neu gestalten. Den Niederschlag dieser Arbeit findet man auch in der Graphik, wo es eine stattliche Anzahl von Holzschnitten gibt, die das Remix-Verfahren verwenden. Obwohl die Holzschnitt-Linien mit Kraft und einer gewissen Ruppigkeit ausgeführt sind, besitzen die Blätter eine gewisse graphische Delikatesse, weil Baselitz das benutzte Japanpapier verschieden eingefärbt hat. Nicht nur dieses Beispiel beweist den erfindungsreichen Graphiker, sondern auch andere Variationen eines Motivs, das einen graphischen Prozess durchläuft. Durch die meisten Werkphasen der Baselitz-Graphik lässt sich dieses Prozesshafte verfolgen, genuine Arbeitsbasis eines "peintre-graveur". Aus dem Jahre 2017 stammte z. B. eine Serie von "Elke"-Farbradierungen. Baselitz' Ehefrau wird im Profil gezeigt, eine Hand gedankenvoll ans Kinn geführt. Im gleichen Jahr 2017 entstanden drei kleinere Gemälde mit dem Kopf von Elke, Hand am Kinn. Die Graphiken behalten das Motiv bei, aber kommen zu sehr unterschiedlichen Interpretationen des Elke-Bildnisses. Seine Frau hat Baselitz während seines Schaffens immer wieder dargestellt. Die Bedeutung von Elke für Leben und Werk des Künstlers ist nicht hoch genug einzuschätzen. In der Graphik von 2017 wirkt Elke nachdenklich, stolz, selbstbewusst, prüfend. Ihr Bildnis wird nach vielen Richtungen ausgelotet. Deshalb verbinden sich graphischer Prozess und Bildniskunst auf eine fruchtbare Weise. Indem Baselitz diesen Blick auf seine Frau festhält, kann er einfangen, wie sie anscheinend eine Bilanz ihres Lebens zieht, im Nachsinnen und durch ein In-sich-Hineinhören. Weil nichts beschönigt, geglättet, verklärt oder manipuliert erscheint, ist ein berührendes Bildnis einer Dame entstanden, in deren Gesichtszügen ein ereignisreiches Leben Spuren hinterlassen hat. Baselitz hat in seinen Bildnissen ihren natürlichen Adel erfasst und verewigt.
Prof. Dr. Siegfried Gohr, Köln Juli 2019