press release only in german

Schon in den Dreißigerjahren haben John Dewey mit Art as Experience (1934) und Jan Mukarovsky mit Funktion, Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten (1936) damit begonnen, von der Ästhetik des Kunstwerks Abstand zu nehmen und die ästhetische Erfahrung zu einer jeder realisierten Erfahrung inhärenten „Eigenschaft“ zu erklären, zum Prinzip, das alle Aktivitäten betreffen kann. Verschiedene ästhetische und hermeneutische Theorien, die in den folgenden Jahrzehnten einander ablösten, konzentrierten sich vor allem auf die Rolle des Rezipienten, auf seine Freude am ästhetischen Genuss, und einige hoben – auf der Basis der aristotelischen Poetik – die Katharsis hervor, die wie eine Art Heilung auf die ästhetische Erfahrung (aisthesis) folgen kann [Hans Robert Jauss, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, 1982).

Nicolas Bourriaud baut seine Esthetique relationelle (2001) auf künstlerischen Ausdrucksweisen auf, die mit Begriffen wie Interaktivität, Gemeinschaftlichkeit und Bezüglichkeit einhergehen und schreibt ihnen den lebhaftesten Aspekt der zeitgenössischen Kunst zu. Vor kurzem beschäftigte sich Joe Sconlan in einem interessanten, in „Artforum“ (Sommerausgabe 2005) veröffentlichten Artikel mit dem Werk im gesellschaftlichen Raum und stellt ironisch die Relationale Ästhetik von Bourriaud in Frage: „Indeed, firsthand experience has convinced me that relational aesthetics has more to do with peer pressure than collective action or egalitarianism, which would suggest that one of the best ways to control human behaviour is to practice relational aesthetics. That is, create an artwork as a situation devoid of all the white cube’s usual restraints, than inform everyone who comes to see the artwork that its completion is actually up to them.” Joe Sconlan bedauert, dass der Hauptaspekt der Relationalen Ästhetik – die Inanspruchnahme der kreativen Potenzialitäten des sozialen Raumes – zunehmend die Theorie und immer weniger die Praxis betrifft; der Autor stellt fest, dass im Zeichen einer „allgemeinen Auffassung von Schicklichkeit“ dem Mittelmaß der Vorzug vor dem Risiko eingeräumt wird, was zu einer generellen Unterdrückung aller Perversionen, Fantasien und Absurditäten führt, und zieht daraus folgenden Schluss: „an aesthetic that can’t allow anything bad to happen sounds more like anesthesia to me.“

Auf der Grundlage dieser Überlegungen entstand das Ausstellungsprojekt „Gruppentherapie“. In der festen Überzeugung, dass es (zum Glück) noch immer Künstler gibt, die uns nicht anästhetisieren, sondern im Gegenteil ebenso metaphorisch wie konkret „dynamisieren“, sind dazu Künstler eingeladen worden, die paarweise und/oder in Gruppen arbeiten, und deren Arbeit sich oft als konkreter soziokultureller Beitrag herausstellt.

Besondere Aufmerksamkeit wurde auf einen Werkbegriff gelegt, der als Katalysator von Verbindungen aufzufassen ist, als offene Situation, die ihren Sinn durch die Beteiligung der Rezipienten oder den Austausch mit ihnen sowie in der zeitlichen Entwicklung erfährt und sich daher endgültig von jeder Idee eines rein darstellenden oder kontemplativen Werks weit entfernt hat. Daran fügt sich die - auch ironische – Wiederaufnahme des antiken Katharsis-Begriffes des Kunstwerks, der in der griechischen Tragödie machtvoll gewirkt hat und im zwanzigsten Jahrhundert von verschiedenen Philosophen und Hermeneutikern wieder aufgenommen wurde. Der Katharsis-Gedanke tritt ausdrücklich in den Kunst-Performances und Happenings seit Anfang der Sechzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts in Erscheinung, wo er einer ursprünglichen Auffassung von Theater entspricht: Das Publikum wird physisch und emotiv vom Künstler mit einbezogen, der sich selbst aufs Spiel und in Szene setzt. Von den Neunzigerjahren kommt es immer häufiger zu Situationen, die vom Publikum verlangen, das Werk als Aktion und als Installation konkret zu rezipieren, allerdings in einem von der dionysischen Aura völlig freien Kontext, der sogar absolut alltäglich wirkt. Dennoch führt die Banalität einer Situation, die anders als gewohnt, mit anderer Bereitschaft und in einem veränderten Kontext erlebt wird, zu einem neuen Bewusstsein der kodifizierten Verhältnisse und Handlungen und demnach zu einer kleinen alltäglichen Katharsis.

Die Gruppen und/oder Paararbeit setzt eine der Realisierung und der Werkrezeption vorhergehende Relationalität voraus, was bedeutet, dass zuvor ein Dialog über das Werk stattfindet, der dann vom Rezipienten fortgesetzt wird.

Künstler: A12 (Genua); Jennifer Allora und Guillermo Calzadilla (Puerto Rico); Bernadette Corporation (Berlin - New York); Clegg & Guttmann (Wien); Elmgreen & Dragset (Dänemark – Norwegen); Gelitin (Wien); Superflex (Dänemark);

Kuratorin: Letizia Ragaglia

Pressetext

only in german

Gruppentherapie / Group Therapy
Kuratorin: Letizia Ragaglia

mit Gruppo A12, Allora & Calzadilla, CLAIRE FONTAINE , Bernadette Corporation, Clegg & Guttmann, Michael Elmgreen & Ingar Dragset, gelitin , Paulina Olowska & Lucy McKenzie, Superflex