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18.06.2021 –17.10.2021

Günter Brus. Bild-Dichtungen

Eine Retrospektive des Genres „Bild-Dichtung“

Eine umfangreiche Schau mit mehr als 900 beschriebenen und bezeichneten Einzelblättern widmet sich dem Genre der Bild-Dichtung, das Günter Brus begründete. Spezifisch ist, dass „das Bild und die Dichtung gleichbedeutend nebeneinanderstehen. Die Bilder sind somit keine Illustrationen zu den Texten, sondern sie werden vom Künstler absichtlich kontrapunktisch gesetzt“, so Kurator Roman Grabner. Von den 1970ern bis in die 2000er-Jahre entstanden Bild-Dichtungen in verschiedenem Umfang. Mache umfassen nur drei Blätter, die umfangreichste Brus’ and Blake’s Job hingegen 162. Ab etwa 2009 entstanden so gut wie keine neuen Bild-Dichtungen, weil Günter Brus sich – wie er selbst sagte – „ausgezeichnet“ hatte und sich vorwiegend seiner Literatur widmete. Im Jahr 2020, im Zuge des Corona-Lockdowns, konnte er nicht mehr in seinen Stammlokalen schreiben und kehrte wieder in sein Atelier zurück, wo neue Arbeiten aus diesem Genre entstanden. Die Ausstellung zeigt die Fülle seiner Bild-Dichtungen von den Anfängen bis zu den jüngsten Blättern aus dem Jahr 2020.

„Ich wollte mir die Sprache vom Leib weg schreiben.“

Mit der Zerreißprobe beendet Brus 1970 seine Aktionszeit und es entsteht ein zeichnerisches Werk, das mehrere 10.000 Blätter umfasst. Aus dem Auftrag, eine Dokumentation seiner Aktionen zu verfassen, entsteht 1971 der Text-Bild-Band Irrwisch, „eines der radikalsten Bücher der Welt“, wie Peter Weibel meint. Der Irrwisch repräsentiert den Übergang vom Körper zum Textkörper und weist mit dem letzten, handgeschriebenen Kapitel über die Pfaueninsel auf seine Bild-Dichtungen voraus.
Ähnlich wie der Irrwisch ist auch der nächste Schritt auf dem Weg zur Bild-Dichtung dem Zufall geschuldet. Brus fertigt für die Galerie Michael Werner in Köln ein Konvolut von über 100 expressiven Farbstift-Zeichnungen, die für eine Folgeausstellung gedacht sind, nachdem die erste Präsentation mit Zeichnungen aus der Irrwisch-Zeit ein überraschender Erfolg war. Enttäuscht darüber, statt der realistischen, provokant-pornografischen Bleistiftzeichnungen nun plötzlich wild hingefetzte Farbstift-Zeichnungen zu erhalten, denen er die kapitalistische Verwertung abspricht, retourniert der Galerist dem Künstler das Konvolut mit dem Kommentar, dass dieser einen falschen Weg eingeschlagen hätte. Brus beginnt daraufhin die DIN-A4-großen Zeichnungen auf Karton zu kleben und frei dazu zu schreiben. Es entstehen als 18. Schachtel in der Edition Hundertmark 30 siebbedruckte Schachteln, in denen sich je 5 beschriebene und mit Zeichnungen versehene Seiten befinden ‒ Der Balkon Europas. In der ersten Ausgabe des Balkons hebt der Künstler zuerst wortschöpfend eine Art erotische Litanei über das „Weib Europa“ an, um auf den letzten beiden Blättern die Spieler der Fußballmannschaft von Austria Wien der frühen 1950er-Jahre aufzuzählen. Erst mit der Edition Der Balkon Europas wird die Verquickung von bildender Kunst und Literatur bei Brus zu einem bewussten künstlerischen Prinzip.

Günter Brus und William Blake

In den 1970er-Jahren werden die „illuminated manuscripts“ von William Blake Vorbild und Legitimation seiner eigenen Manuskripte, wie er seine Bild-Dichtungen zu diesem Zeitpunkt noch nennt. Ähnlich wie bei den prophetischen Büchern von Blake scheint das Verhältnis von Bild und Text auf den ersten Blick bestechend, doch stellt sich bei näherer Betrachtung heraus, dass es keine exakte Übereinstimmung gibt, keine einfache Kohärenz der Motive und Sprach-Bilder. Bereits 1977 hat Brus William Blake eine Bild-Dichtung gewidmet, bei der er drei seiner Gedichte selbst übersetzt hat und zeichnerisch erweitert. In Die Erzeugung der Erzengel aus Schmutz zeichnet er eine Art Ahnengalerie und Blake sitzt ihm als Engel auf der Schulter. In den Jahren 2007 bis 2008 entsteht sein spätes Hauptwerk Brus’ and Blake’s Job. In dieser umfangreichsten Bild-Dichtung zieht Brus auf 162 Blättern noch einmal alle Register seines Könnens und zeichnet, schreibt, malt und collagiert zu Blakes Buch Hiob.
Die Bild-Dichtung ist eine Synthese von Sprache und Bild, bei der sich die beiden Ausdrucksformen nicht bedingen, sondern ein dialektisches und kontrapunktisches Neben- und Miteinander führen. Der Text gibt keine Erklärungen zum Bild ab, doch ist er reich an sprachlichen Bildern und Metaphern. Die Zeichnung stellt keine Illustration des Geschriebenen dar, obgleich in ihr ebenso poetisch erzählt wird. Alleine die unterschiedlichen Entstehungsprozesse einer Bild-Dichtung machen es nahezu unmöglich, diese in Kategorien zu packen. Manchmal geht Brus von eigenen Texten aus, zu denen später Zeichnungen entstehen, manchmal entstehen zuerst Zeichnungen, die später durch Texte ergänzt werden. In einigen Fällen hat Brus Texte von anderen Autoren mit Zeichnungen versehen, in einigen Fällen hat er vorhandenes Bildmaterial textlich überarbeitet. „Im Idealfall verschränkt es sich miteinander“, wie er selbst schreibt.

Hat er in seinen Aktionen die Grenzen der Körperkunst ausgelotet, so hat er sich mit seinen Bild-Dichtungen an den Grenzen der Sprache angesiedelt. Dort, wo das Vermögen der Sprache endet, beginnt die Zeichnung, und dort, wo die Linien und Farben ihre Erschöpfung finden, beginnt die Sprache.

Die aktuelle Ausstellung zeigt erstmals ausschließlich die Bild-Dichtungen von Günter Brus und ist bis 17.10.2021 zu sehen.