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Das außergewöhnliches Projekt der amerikanischen Künstlerin Helen Mirra geht sowohl über eine Werkschau als auch über eine einfache Kooperation dreier Ausstellungshäuser hinaus. Initiiert wurde das Projekt vom Bonner Kunstverein. Die Vielfalt der geografischen Lage war Ausgangspunkt für die Zusammenarbeit mit weiteren Ausstellungsorten. Mit den Institutionen KW Institute of Contemporary Art, Berlin, und Museum Haus Konstruktiv, Zürich, sind die idealen Standpunkte gefunden: Ausgehend von Bonn, am Übergang vom Rheinischen Schiefergebirge zur Rheinischen Tiefebene, steht Berlin für die flächengrößte Stadt Deutschlands und zuletzt Zürich für seine Nähe zu Bergen und Seen.

Die sorgfältige Wahl der drei Standpunkte ging einher mit der Entwicklung der neuen Werkgruppe „gehend (Field Recordings 1–3)“, die auf jeweils 30-tägigen Wanderungen in und um Bonn, Berlin und Zürich basiert. Das Gehen steht dabei in einem symbiotischen und differenzierten Verhältnis zu der Serie von Drucken, die während der Wanderungen entstanden sind und die als neue Werkreihe präsentiert werden: „Eine bleibende Sache ist, dass die Arbeiten nicht vom Gehen an sich sprechen. Oder doch: Insofern als sie nicht so aussehen wie irgendetwas, was ich jemals in meinem Atelier machen würde, gibt es einen Hinweis darauf, das noch etwas anderes mit im Spiel ist.“ (Helen Mirra im Interview mit Peter Eleey).

Der Begriff „Field Recordings“ wird gewöhnlich für dokumentarische Tonaufnahmen außerhalb des Studios verwendet. Mirra hingegen gibt ihren Aufnahmen in Form von Drucken Gestalt: stündlich unterbrach sie ihr Gehen, um ein gefundenes Objekt auszusuchen – einen Grashalm, ein Blatt oder einen Ast –, dieses mit Tinte einzupinseln und an Ort und Stelle auf einem zugeschnittenen Leinenstoff einen Abdruck anzufertigen. Sieben Drucke pro Tag entstanden auf diese Weise; im Fall von Berlin fertigte Mirra zusätzlich Abreibungen des Bodens oder von Baumstümpfen. Im Atelier ordnete, reihte und nähte sie diese zu Bilderreihen oder Blöcken zusammen.

Kultur- und wissenschaftshistorische Themenkreise finden bei Mirra ebenso Eingang in ihr Werk wie eine Vielzahl von Ordnungsschemata, sei es die geometrische Form und serielle Anordnung, Systeme der Vermessungen, Adaptionen aus der Kartografie oder archivarische Ordnungen. Mit ihren Feldforschungen nimmt Mirra den Faden historischer Naturforscher auf, etwa des Ornithologen John James Audobon, der im 18. Jahrhundert Vögel erlegte, um sie naturgetreu abmalen zu können. Auch ihr gewähltes Druckverfahren leitet sie von dem in Japan tradierten „Gyotaku“ ab, das für eine Bildtradition steht, die mit Tintenabdrücken von Fischen auf Reispapier Naturtreue sucht. In der Reihe kunsthistorischer Positionen, die sich mit Natur- und Ordnungsprinzipien beschäftigen, nimmt Helen Mirra eine besondere Stellung ein; die Praxis von Künstlern wie On Kawara, Ad Reinhard oder Giuseppe Penone erscheint als geistige Verwandte.

Die vermeintliche Nähe zum Dokumentarischen mag irreführen, geht es der Künstlerin doch keineswegs darum, den Betrachter ihre Wanderungen nachempfinden zu lassen. Die Drucke, die wie prähistorische Fossiliensammlungen anmuten, entziehen sich jeglicher Zeitlichkeit ebenso wie einer idealisierenden Vorstellung von Natur. „Direkte Drucke sind Fakten ohne viel Information, abhängig vom körperlichen Kontakt. (...) Also ausdrücklich, ich bilde in keinerlei Weise ab, darum geht es mit dem Maßstab 1:1. Ich bin hineingetreten.“ (Helen Mirra im Interview mit Peter Eleey)

Alle Arbeiten verfolgen einen strengen, minimalistischen Ansatz. Doch so kontrolliert und objektiv ihre Ordnungssysteme scheinen, so komplex und sinnlich-poetisch ist doch ihr Verfahren. So entfaltet jeder einzelne Druck eine abstrakte Ästhetik, lässt Fehlerquellen aufscheinen, die zur Qualität beitragen. Jedes Element verweist auf ein größeres, komplexes System und eröffnet doch mit seinem poetischen Minimalismus Assoziationsräume, in denen die kleinen Dinge der Natur eine Belebung erfahren und unsere ethische Verantwortung gegenüber der Umwelt, der Natur und ihrer Vielfalt mobilisieren. Denn jedes Element sensibilisiert uns auf das kleinste Detail, auf das Dasein im Hier und Jetzt.

Im Bonner Kunstverein wird die Werkgruppe „gehend (Field Recordings 1-3)“ mit einem zusätzlichen Raum ergänzt, in dem der Boden vollständig mit Strohballen ausgelegt ist. Diese Strohballen stellen das älteste Elemente in der Kette der menschlichen Nutzung natürlichen Raums dar. Sie werfen die Ausstellungsbesucher auf ihre eigene physische Konstitution zurück, indem sie ungewohnte sensorische Erlebnisse herausfordern. Der Untergrund sensibilisiert für die so grundlegenden wie einfachen Tätigkeiten des Gehens, Sitzens, Liegens, Atmens und Riechens.

Die Künstlerin Helen Mirra ist in Europa durch zahlreiche Gruppenausstellungen bekannt geworden (u. a. Pittoresk – Neue Perspektiven auf das Landschaftsbild, MARTa Herford, 2009, Formalismus, Hamburger Kunstverein 2004, Land, Land!, Kunsthalle Basel 2003). Neben Skulpturen, Installationen, Filmen, Videos und Tonaufnahmen sind Mirras Textarbeiten – die so genannten „Indices“ – besonders hervorzuheben, die auch von Mirras Auseinandersetzung mit Literatur zeugen. Die Künstlerin lehrt an der Harvard University Massachusetts und hat zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien erhalten, u. a. IASPIS (International Artists Studio Programme Sweden 2011), DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst 2005/06).