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Die Sammlung Oskar Reinhart «Am Römerholz» besitzt ein umfangreiches Ensemble an Gemälden und Zeichnungen von Honoré Daumier, die zu den Höhepunkten seines Schaffens gehören und den Bestand als eine der weltweit grössten und besten Daumier-Sammlungen ausweisen. Anlässlich des 200sten Geburtstages des französischen Künstlers stellt das Römerholz diesen einzigartigen Fundus in einer neuen Präsentation vor. Integriert ist auch eine Auswahl graphischer Blätter, die im Museum Oskar Reinhart am Stadtgarten aufbewahrt werden. Während der gesamten Dauer der Veranstaltung zu Ehren Daumiers wird im Römerholz auch der Film der Kunsthistorikerin und Filmemacherin Judith Wechsler Honoré Daumier. Il faut être de son temps gezeigt. Der im Original französische Film wurde eigens für unsere Ausstellung ins Deutsche übertragen. Darüber hinaus organisiert die Sammlung Oskar Reinhart «Am Römerholz» ein Symposium, in dem sieben internationale Fachleute, die mit dem Werk Daumiers bestens vertraut sind, neues Licht auf bereits Bekanntes werfen und noch Unbekanntes aufdecken. Dieses Kolloquium ist gleichermassen an Fachleute wie an Daumier- und Kunstliebhaber gerichtet.

Honoré Daumier (1808–1879) wurde in Marseille geboren und verbrachte die meiste Zeit seines Lebens in Paris. Die finanziellen Umstände der Familie zwangen ihn schon in jungen Jahren, seinen Lebensunterhalt weitgehend selbst zu verdienen. Und so experimentierte er bereits als Vierzehnjähriger mit der Technik der Lithographie.

Das Jahr 1830 brachte nicht nur für Frankreich, sondern auch für Daumier eine entscheidende Wende. Nachdem im Juli der Bourbonen-König Karl X. die neu gewählte Abgeordnetenkammer aufgelöst hatte, kam es zu einem Aufstand, an dessen Ende Louis-Philippe neuer König der Franzosen wurde. Zeitgleich begann Daumier seine über Jahre andauernde Tätigkeit als Pressezeichner, während deren er insgesamt etwa 4000 Lithographien schaffen sollte, zunächst für die satirische Zeitschrift La Caricature, ab 1832 dann für das ihr nachfolgende Satireblatt Le Charivari. Seine überspitzte Darstellung des Königs Louis-Philippe als Gargantua, einer Monsterfigur aus der gallischen Mythologie, die François Rabelais als Romanfigur hatte aufleben lassen, brachte dem Künstler 1832 eine Gefängnisstrafe von sechs Monaten ein. Darauf nimmt die am 14. März 1834 in Le Charivari erschienene und hier ausgestellte Lithographie Souvenir de Sainte-Pélagie Bezug, die drei Gefängnisgefährten Daumiers in einer Zelle zeigt. Die Repressionen gegen die Presse in den folgenden Jahren zwangen Daumier, die politische Karikatur weitgehend aufzugeben und sich verstärkt der bürgerlichen Sitten anzunehmen, denen er bis zu seinem Lebensende sein kritisches und scharf beobachtendes Auge lieh.

1925 erwarb Oskar Reinhart bei der Galerie Ernst Arnold in Dresden en bloc 1800 Lithographien, die die meisten in Le Charivari erschienenen Folgen umfassen. Reinhart überliess dieses umfangreiche graphische Werk dem Museum Oskar Reinhart am Stadtgarten und behielt Daumiers Gemälde und Zeichnungen in seiner ganz privaten Sammlung «Am Römerholz» zurück. Daumiers karikaturistisches Werk traf zwar auf Reinharts schon legendären Sinn für Humor, die eigentliche Liebe des Sammlers galt jedoch dem malerischen Œuvre, das sich allerdings zu Lebzeiten des Künstlers lange nicht derselben Popularität erfreut hatte wie sein lithographisch-satirisches Schaffen und erst im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts in Deutschland wiederentdeckt wurde. Diese Aufwertung hatte Oskar Reinhart miterlebt, und entsprechend der deutschen Rezeption feierte er Daumier als einen Brennpunkt der künstlerischen Entwicklung im Frankreich des 19. Jahrhunderts, die schliesslich zum Impressionismus führen sollte. Als einen «Triumph des Malerischen» wertete Reinhart die impressionistische Ära und hatte sie deshalb ins Zentrum seines Interesses gestellt.

Tatsächlich lassen sich die Zeichnungen und Gemälde weit besser als die Karikaturen mit Reinharts Wahrnehmung von Daumier eher als Formfinder denn als Erzähler und kritisch beobachtendem Zeitgenossen in Verbindung bringen. Der unmittelbare Vergleich in der Ausstellung zwischen den karikaturistischen Lithographien und den Zeichnungen Daumiers zeigt, dass der Künstler hier zwar zahlreiche Themen seines druckgraphischen Werkes übernimmt, wie etwa die Advokaten, die Kunstbetrachter und das Theater, diese Motive aber nicht als aktuelles Tagesgeschehen dramatisch inszeniert, sondern das jeweils Typische der einzelnen Stände, Berufe und gesellschaftlichen Lebensformen, deren Verhaltensweisen und Gebaren mit eindrucksvoller Ökonomie einfängt. Die Theaterszenen weisen eine besondere Vorliebe für Molières Komödien auf, wobei der Blick in den Zuschauerraum den Künstler oft mindestens so sehr fasziniert hat wie das Geschehen auf der Bühne. Die Liebe für das Theater lässt sich auch bei anderen Sujets erkennen. So ist auf dem Blatt Die beiden Ärzte und der Tod aus der Sammlung «Am Römerholz», einer Illustration von Jean de La Fontaines Fabel Les Médecins, die Erzählung in ein dramatisches Bühnenstück umgesetzt.

Daumiers Arbeiten auf Papier, die das Römerholz vorzuweisen hat, decken die Etappen seines malerischen Werkes ab. Reinharts Bedürfnis nicht nur nach malerischen Qualitäten, sondern auch nach der ausgewogenen, vollendeten Form, die im allgemeinen seine Ankäufe charakterisiert, liess ihn jedoch den Aquarellen aus den sechziger Jahren den Vorzug geben. Diese sind bildmässig ausgeführt und waren für den Verkauf an Sammler bestimmt. Daumier wollte mit ihnen offenbar Kapital aus seinem Ruhm als Karikaturist schlagen und gleichzeitig seine malerische Meisterschaft unter Beweis stellen.

Auch die Gemälde, die Oskar Reinhart erworben hat, lassen die verschiedenen Phasen des malerischen Werkes nachvollziehen, wobei erneut die Arbeiten der sechziger Jahre dominieren, in denen sich Daumier auf die Malerei konzentriert hat. Sie entsprechen denselben ästhetischen Massstäben, die Reinhart bei der Wahl der Zeichnungen und Aquarelle geleitet haben.

In den Gemälden fehlen die karikierenden Elemente nahezu völlig, hier wandte sich der Maler einer sozialkritisch motivierten Darstellung des «einfachen Volkes» zu. Ein Hauptwerk unter den Gemälden Daumiers in der Römerholz-Sammlung sind Die Flüchtlinge. Insgesamt 29 Jahre lang strebte Reinhart danach, das Gemälde zu erwerben. 1949 schliesslich gelang es ihm, das begehrte Werk aus der Berliner Sammlung Otto Gerstenberg nach Winterthur zu holen. Datiert 1848, entstand es in den Jahren, in denen sich Daumier zunehmend der Malerei widmete. Das Sujet hat der Künstler in vier Gemälden, drei Zeichnungen und zwei Reliefs wiederholt aufgegriffen. Es zeigt einen nicht enden wollenden Strom von Menschen, der sich durch eine nicht identifizierbare hügelige Landschaft zieht. Auch die nackten oder nur mit Lumpen bekleideten einzelnen Figuren sind nicht näher differenziert. Das Gemälde scheint sich nicht auf ein konkretes historisches Ereignis zu beziehen, etwa die Juniinsurrektion, bei der der Aufstand der Ärmsten der Armen durch die Nationalgarde mit äusserster Gewalt niedergeschlagen wurde, nachdem man im Februar desselben Jahres den Bürgerkönig Louis-Philippe gestürzt und die Zweite Republik ausgerufen hatte und bereits im darauffolgenden April die Konservativen einen durchschlagenden Wahlsieg hatten feiern können. Der Künstler suchte vielmehr nach einer Metapher für das Schicksal von Flüchtlingen überhaupt, und so gelang ihm eine Darstellung von brisanter Aktualität.

Innerhalb seines malerischen Œuvres beschäftigte sich Daumier zunächst in den fünfziger Jahren und dann mit noch grösserer Intensität nach 1860 mit einem neuen Thema: Don Quijote und Sancho Panza. Gleich drei Werke der Daumier-Gruppe im Römerholz behandeln dieses Sujet, mit dem Daumier die Dualität der aus dem Irdischen und dem Geistigen sich zusammensetzenden Einheit des Menschen beleuchtet.

Das späteste Werk der Gemäldegruppe im Römerholz zeigt einen singenden Pierrot mit Mandoline (um 1873). Der skizzenhafte Duktus des Pinselstrichs geht auf Jean-Honoré Fragonard (1732–1806) zurück, wie die Gegenüberstellung des Gemäldes und dreier Zeichnungen dieses Künstlers aus der Sammlung «Am Römerholz» deutlich macht. Trotz des wirren und abstrakten Liniengefüges bewahrt der Singende Pierrot mit Mandoline jedoch im Vergleich zu ähnlich konzipierten, wilden Zeichnungen und Gemälden aus dem Spätwerk noch eine gewisse Plastizität, die dem Geschmack Reinharts nach einer klassizistisch befriedeten Form entspricht. Diese ästhetisierende Anschauung Daumiers verband sich bei Reinhart mit seinem untrüglichen Sinn für Qualität, der uns nicht nur ein in sich stimmiges und harmonisches, sondern auch ein hochkarätiges Daumier-Ensemble geschenkt hat, das bis heute seinesgleichen sucht.

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Honoré Daumier in der Sammlung «Am Römerholz»