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Hussein Chalayans Videoarbeiten sind von einer bizarren Schönheit und voller surrealer Elemente, die mit narrativen Widersprüchen und traumartigen Szenerien spielen. Ihnen wohnt eine überaus glatte, beinahe sterile Ästhetik inne, die in einem irritierenden Gegensatz zu den menschlich komplexen, emotional aufgeladenen Themen steht.

Geboren 1970 im türkischen Teil Zyperns, wuchs Chalayan in Istanbul und London auf, wo er   heute lebt. Diese Existenz zwischen zwei Welten – der christlichen und der muslimischen,    zwischen Europa und Asien, einst und heute – reflektiert er auf deutliche, aber unauf-  dringliche, reduzierte Weise in seiner Arbeit.

In erster Linie ist Chalayan als Modedesigner bekannt. Doch die Beschäftigung mit einem     Design-Projekt mündete in seine erste Videoarbeit, die nun erstmals in Deutschland in der   Galerie Jesco von Puttkamer zu sehen ist: Place to Passage, 2003, beschreibt eine stark     autobiografisch geprägte Reise von einer Welt in die andere, von der Gegenwart durch die    Erinnerung zurück in die Vergangenheit. Auf mehreren Leinwänden evoziert Chalayan das   Gesamtbild eines fötalen Urzustands und verweist damit auf den Ursprung des menschlichen    Laufs durchs Leben.

Eine spröde Tiefgarage ist der Ausgangspunkt, von wo aus die Protagonistin – eine stille,   androgyne Frauenfigur in hellem, hautengem Anzug – ihre Route startet. Ihr Gefährt ist eine     aerodynamische, futuristisch geformte Kapsel, die an eine Eizelle erinnert und die lautlos zu   schweben anhebt. Ihr Weg führt zunächst durch die Straßen Londons, vorbei an ärmlichen  Backsteinhäusern und schillernden Silhouetten, um von dort auf eine Autobahn zu gleiten, die    von großformatigen Werbetafeln flankiert wird, auf denen die Protagonistin immer wieder     selbst auftaucht – eine kurze, aber seltsam irritierende Koexistenz der Figur, die von der leisen   Innenwelt der Kapsel auf die aggressiven öffentlichen Bildtafeln projiziert wird.

Die Perspektive des Betrachters dagegen wechselt beständig zwischen der Außenansicht der    Kapsel und dem Blick durch die Augen der Hauptfigur. Unterlegt von einer eigens     komponierten Musik, hält uns Chalayan somit einerseits auf Distanz, andererseits versetzt er    uns in die Geborgenheit, die die Figur in ihrer Schutzhülle umgibt. Während nun draußen raue,   verwilderte Landschaften und karge Eiswüsten vorbeiziehen, sehen wir die Protagonistin, wie     sie auf ruhige, beinahe routinierte Art verschiedenen alltäglichen Tätigkeiten nachgeht.

Die Kapsel stellt ihr Nahrung zur Verfügung, lässt sie sich in einer Decke zum Schlafen zusammenrollen und sich Gedanken hingeben und verhüllt schließlich die transparente Außenhaut – der Autopilot erlaubt der Passagierin auf diese Weise, sich ganz in sich selbst zurück zu ziehen, während sich die Welt draußen stetig verändert. Selbst, als sich die Kapsel wie eine Fruchtblase mit Wasser füllt, besteht in keinem Moment die Gefahr des Ertrinkens, die Figur blickt friedlich um sich und schließlich zum Betrachter hin, doch niemals ergreift sie Unruhe oder gar Panik – sie vertraut vollends ihrem multifunktionalen Kokon.

Der letzte Teil der Reise führt unter Wasser durch den Bosporus. Es ist Nacht geworden, und     die Silhouetten der Stadt schimmern im Dunkel, die Blaue Moschee und die Hagia Sophia sind  angestrahlt. Hindurch unter der Brücke, die Europa von Asien trennt, und vorbei an  gigantischen Schiffen, beschleunigt die Kapsel noch einmal, um schließlich wieder in einem  Parkhaus zum Stehen zu kommen. Die Reise endet hier, und der Kreis schließt sich, die   Protagonistin ist wieder zu Hause – am Ausgangspunkt ihres Lebens.

Chalayans Themen von (Wieder-) Geburt, Erinnerung, Heimat und kulturellen Gegensätzen   spiegeln einerseits sein eigenes Leben, andererseits sind die Gedanken der Rückkehr ins     eigene Ich, die ureigenste Geschichte in Relation zur Gegenwart und der Rückzug in eine     traumartige Intimität eine universelle Erfahrung. Die stille Poesie, die „Place to Passage“ trotz   aller technisch-futuristischen Elemente ausstrahlt, wird zum Synonym für die Kontemplation,     derer es bedarf, um in Kontakt mit sich selbst zu treten und das eigene Leben Revue passieren   zu lassen.

Diese friedliche Stimmung steht im vehementen Kontrast zum Werk Matthew Barneys, an     dessen surreale Ästhetik Chalayans Arbeit erinnert. Während bei Barney der Fortschritt oft in   genetische Deformationen und alptraumhafte Szenarien mündet, wird bei Chalayan die  Entfremdung des Menschen in einem physisch und psychisch manipulierbaren, digital und   medial geprägten Umfeld auf positive Weise unterlaufen: Indem sich die Protagonistin die    technischen Möglichkeiten zunutze macht und sie für ihre eigenen, ganz intimen Zwecke   verwendet, gelingt ihr ein individueller Transfer zwischen den Facetten ihrer persönlichen  Biografie, der sie zu sich selbst führt.

Film directed by Hussein Chalayan curated by Artwise commissioned by Tribe Art. Five screen film installation, 2003. Duration 12 min. © Tribe Art / Hussein Chalayan / neutral © Music - Jean Paul Dessy

Hussein Chalayan ist noch bis zum 6. November im Türkischen Pavillon auf der Biennale Venedig vertreten. Vom 15. Oktober 2005 bis 5. Februar 2006 zeigt das Kunstmuseum Wolfsburg eine große Übersicht seiner Arbeiten.

Pressetext

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Hussein Chalayan
Place To Passage / Tribe Art Commission2