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ICESTORM, die erste Ausstellung des neuen Direktors Stefan Kalmár und Daniel Pies (Kurator für Theorie, Vermittlung und Publikation), unternimmt den Versuch, aus der gegenwärtigen Perspektive die sozialen, politischen und kulturellen Hinterlassenschaften der Moderne einer kritischen Reevaluation zu unterziehen.Ausgangspunkt, Parallelerzählung und methodischer Blueprint der internationalen Gruppenausstellung ist Ang Lees gleichnamiger Film "The Ice Storm" aus dem Jahr 1997.

Nach dem Ende der Postmoderne erscheinen uns Moderne und Modernismus nicht mehr als lineare Entwicklung und monolithische Einheit, sondern als komplexe Topographie lokal divergenter Artikulationen und Erfahrungen von Modernität. Mit der Verräumlichung und Fragmentierung unseres Blicks auf die Moderne eröffnet sich die Möglichkeit, ihre Geschichte/n in ihrer Unterschiedlichkeit und jeweiligen Spezifizität neu zu lesen und deren Implikationen und Potentialitäten im Horizont der Gegenwart zu aktualisieren.

Die in ICESTORM vertretenen Künstler teilen ein gemeinsames Interesse an der kritischen Rekonstruktion spezifischer Momente und Aspekte der Moderne, um so alternative Lesarten ihrer jeweiligen Manifestationen vorzuschlagen. Darüber hinaus wird vor allem der Wunsch deutlich, die verlorenen oder entstellten Spuren und unrealisierten Potentiale der utopischen Dimension der Moderne auszugraben und erneut zu befragen. Hier wird die Geschichte des utopischen Denkens nicht primär als durch die Drohung des Totalitären kontaminiert verstanden, sondern vielmehr als politisch unverzichtbares Potential, mögliche Alternativen zur Faktizität des Gegenwärtigen zu imaginieren.

Zusammenfallend mit dem 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs wird der Kunstverein München als Teil von ICESTORM eine neue Version der Arbeit CLEAVE 03 von CERITH WYN EVANS realisieren. CLEAVE 03 besteht aus einem seiner kriegerischen Zwecke entbundenen Flakscheinwerfer des 2. Weltkrieges, der mit einem starken Lichtstrahl einen durch den Künstler ausgewählten und in Morsesignalen kodierten Text 10 km weit in den Münchner Nachthimmel senden wird.

KÜNSTLERISCHE BEITRÄGE

CAROL BOVE (*1971) Carol Boves Arbeit What the Trees Said (2004) ist Teil eines expandierenden künstlerischen Projektes, das die Ästhetik und Politik der späten 60er und frühen 70er Jahre untersucht. Ihre archäologischen Zeitreisen nehmen die Geschichte eines kollektiven Imaginären in den Blick, das die Ideale der personalen Authentizität, der politischen Emanzipation und der sexuellen Befreiung im Zentrum alltäglicher Praxen, öffentlicher Diskurse und der kulturellen Produktion zu verankern suchte. Bove fungiert in ihrer Arbeit als Kulturanthropologin, die die ideologischen Ambivalenzen dieser Epochenschwelle über das räumliche Arrangement ihrer expressiven kulturellen Formen auf spekulative Weise rekonstruiert. Indem sie die materiellen Artikulationen eines vergangenen kulturellen Imaginären in die Aktualität eines dichten Displays von Objekten, Büchern, Möbelstücken und visuellen Artefakten übersetzt, eröffnet sie dem Betrachter einen Erfahrungsraum, der es ihm/ihr ermöglicht, ohne nostalgische Verklärung einen historischen Einschnitt zu re-evaluieren, der unsere kulturelle und politische Landschaft herausforderte und veränderte.

GERARD BYRNE (*1969) Gerard Byrnes photo- und videobasierte Arbeiten scheinen auf eine Sehnsucht nach dem Medium der Erzählung zu antworten, beziehen sich dabei jedoch auf hochgradig vermittelte Formate der oralen Kommunikation. Seine Methode, Historisches wieder aufzuführen, stützt sich auf vorgefundenes Material wie Werbungen und Zeitschriftenartikel, die im Rahmen von Byrnes Installationen rekontextualisiert werden. Ausgangspunkt von New Sexual Lifestyles (2003) sind die parallelen Geschichten des Goulding House (Scott Tallon Walker Architects, 1972), einer spätmodernistischen Architektur in Irland, und einer Diskussion über die 'Sexuelle Revolution', die 1973 im amerikanischen Playboy veröffentlicht wurde. Die Diskussion wurden mit 12 Schauspielern in den Räumen des Goulding Houses re-inszeniert. In der Installation sind die Videorekonstruktionen des Gesprächs über drei Monitore verteilt und werden im Raum durch großformatige Photographien des Goulding Houses begleitet. New Sexual Lifestyles etabliert so eine parallele, aber dissonante Beziehung zwischen der Geschichte der Architektur und der der Zeitschrift, die in völlig unterschiedlichen Medien kultureller Artikulation die ideologischen und rhetorischen Figuren zu Tage treten lassen, die das 'progressive Denken' der Spätmoderne prägten.

CERITH WYN EVANS (*1958) Vor dem neuen Eingang des Kunstvereins hat der walisische Künstler Cerith Wyn Evans als Auftakt von ICESTORM eine neue Version seiner Arbeit Cleave realisiert. Cleave 05 besteht aus einem ausrangierten Flakscheinwerfer des 2. Weltkrieges, der mit starkem Lichtstrahl einen in Morsesignalen kodierten Text in den Münchner Nachthimmel sendet. Der Text diskutiert Kopierverfahren in der Astrophotographie und beschreibt Wahrnehmungstäuschungen bei der Verortung von Planetensystemen, die aus Bildtransfers auf unterschiedlich gekörnte photographische Trägermaterialien resultieren. Die Übersetzung des Textes in Morsecode kann in Realzeit auf einem Computermonitor, der im Schaufenster des Kunstvereins positioniert ist, nachvollzogen werden. Cleave 05 eröffnet so einen poetischen Reflektionsraum, der sowohl auf textueller wie auch visueller Ebene das Gegensatzpaar Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit verschränkt.

LIAM GILLICK (*1964) Liam Gillicks Underground (Fragments of Future Histories) (2004) besteht aus einem Werbetrailer für Gabriele Tardes' einzigem Roman, dem Science Fiction 'Fragments d'histoire future' (1896) sowie einer limitierten Ausgabe des Romans selbst in aktualisierter Übersetzung. Der Roman aus dem späten 19. Jahrhundert erzählt die Geschichte einer durch Globalisierungsprozesse im Jahr 2489 ausgelösten ökologischen Katastrophe, nach der der überlebende Teil der Menschheit gezwungen ist, unter der Erde weiterzuleben und dort eine neue Zivilisation aufzubauen. Der 7-minütige Trailer wird auf einem 1969 entworfenen Brionvega Cuboglass Monitor abgespielt und präsentiert, untermalt von elektronischen midi-files mittelalterlicher Musik, Auszüge aus Tardes’ Roman. Gillick schafft so unterschiedliche mediale Objektebenen als Plattformen der Textinszenierung, die den diachronen Fluss der historischen Zeit aufbrechen und in komplexer Gleichzeitigkeit überblenden: die Gegenwart der Vergangenheit mit der Vergangenheit der Zukunft mit der Zukunft der Vergangenheit...

JIM ISERMANN (*1955) Jim Isermanns Werke spielen immer mit einer doppelten Form der Referenzialität. Zum einen nehmen sie Bezug auf die populäre und offensichtlich historisch und sozial verankerte Ästhetik des Mode- und Interiordesigns der 60er Jahre. Zum anderen gehen sie ein offensives Verhältnis zur scheinbar überzeitlichen Rationalität der 'reinen Form' der Moderne ein. Der esoterische Charakter des reduzierten, minimalistischen Formenvokabulars wird durch den Common Sense des Modischen konterkariert. Auch seine Arbeit Untitled (0101) (2005) etabliert diese ambivalenten Bezüge. Das Ornamentale als Feindbild der Ideologie des Modernismus zeigt sich hier zugleich als Grundstruktur der architektonischen Ordnung des Funktionalismus: Die serielle Vervielfältigung der generischen Wabe schlägt um in die Banalität des Dekorativen.

DORIT MARGREITER (*1967) Dorit Margreiters Arbeiten verhandeln urbanistische und sozio-politische Fragestellungen in komplexen Bild- und Videoarrangements, die sich der Sprache eines konzeptuellen Minimalismus bedienen. Im Zentrum ihrer künstlerischen Produktion steht die Frage nach den Bedingungen der Sichtbarkeit, der sozialen Effizienz von Bildern, Sprache und Raum. Ausgangspunkt ihrer Videoinstallation Case Study #22 (2001) ist Julius Shulmans berühmte Photographie für Harper's Bazaar, die Pierre Koenigs Architektur 'Case Study #22' (1960) auf den Hügeln um Los Angeles wie ein Raumschiff über der Stadt schwebend zeigt. Margreiter re-inszeniert diese Photographie mit identischer Perspektive, positioniert aber an Stelle der damaligen Bauherrin die derzeitige Besitzerin des Hauses Charlotta Stahl und sich selbst im Gespräch. Über die vier Monitore wird dann das durch die aktualisierte Photographie gesetzte Programm der Rekontextualisierung und erneuten Verortung der zu einer universellen Chiffre der späten Moderne geronnenen Ikone realisiert. Der solitär gesetzte Monitor zeigt einen Aspekt der derzeitigen Ökonomie des Hauses, in der die futuristische Aufnahme von Shulman immer noch nachwirkt: im Loop wird eine Sequenz aus dem Science Fiction Film 'Space Quest' gezeigt, eine der jüngeren unter zahlreichen Hollywood Produktionen, denen Koenigs Architektur als Location diente. Über die drei übrigen in Serie positionierten Monitore rekonstruiert Margreiter die Entstehungsgeschichte des Hauses (Interview mit Koenig), die Entstehungsgeschichte der Photographie (Interview mit Shulman) und die derzeitige Vermarktung des Hauses (Interview mit Stahl).

CHRISTIAN PHILIPP MÜLLER (*1957) Für ICESTORM präsentiert Christian Philipp Müller erneut das Herzstück seiner 1992 im Münchner Kunstverein realisierten Einzelausstellung Vergessene Zukunft. Müller rekonstruiert hier maßgetreu das Büro von Le Corbusier, einen winzigen weißen Raum ohne Fenster, ausgestattet nur mit einem kleinen Konferenztisch. Die Grundfläche des Büros wird in einem anschließenden zweiten Raum, schwarz und schallisoliert, verdoppelt. Hier wird Edgar Vareses 'Elektronisches Gedicht' abgespielt, das dieser für Corbusiers Philips Pavillon auf der Weltausstellung von 1958 in Brüssel komponiert hat. An die Außenwand des Kubus wird über zwei Diaprojektoren die Textpartitur von Corbusiers riesigen Bildprojektionen geworfen, eine Art privatmythologische Evolutionsphantasie, die im Philips Pavillon synchron mit Vareses Gedicht als audiovisuelles Gesamtkunstwerk inszeniert wurde. Kombiniert wird die Arbeit mit einem Display der Plakate und Rezensionen von Veit Harlans 'Anders als Du und Ich' (1957), in dem Homosexualität und die Kunst der Moderne als Figuren sozialer und kultureller Dekadenz amalgamiert und denunziert werden. Mit der Übersetzung der im Philips Pavillon von Corbusier realisierten Überwältigungsästhetik in eine strenge und reduzierte Formensprache, die die einzelnen Elemente dieses synästhetischen Spektakels auseinander nimmt und isoliert präsentiert, macht Müller den ideologischen Gehalt der europäischen Nachkriegsmoderne lesbar und unterstreicht, gerade auch in Kombination mit den nahezu zeitgleichen Dokumenten des Harlan Films, das ambivalente Schwanken dieser Epoche zwischen technologiebasierter Zukunftseuphorie, zweckrationalistischem Effizienzdenken und ihrem kolonialistischen, rassistischen und sexistischen Erbe.

Pressetext

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ICESTORM
Kurator: Stefan Kalmar

mit Carol Bove, Gerard Byrne, Liam Gillick, Jim Isermann, Dorit Margreiter, Christian Philipp Müller, Florian Pumhösl, Cerith Wyn Evans