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Für die Kunstgeschichte gelten die Schriften und Ideen Rudolf Steiners(1861 – 1925) neben der Theosophie als bedeutende Inspirationsquelle für jene Künstler, die wie Wassily Kandinsky und Piet Mondrian und später Joseph Beuys Kunst als geistige Tätigkeit verstehen, als einer der Versuche, in der Materie (dem Pigment, dem Farbauftrag, der kompositorischen Ordnung) auf „das“ Geistige oder „das“ Spirituelle zu verweisen. Rudolf Steiner selbst hat während seiner mehr als fünftausend frei gehaltenen Vorträge immer wieder eine Tafel benutzt, um entweder einen Begriff, einen Namen oder eine Jahreszahl zu betonen, für die Zuhörer sichtbar zu machen, oder aber um einen komplexen Sachverhalt visuell aufzubauen, festzuhalten und dann zu entwirren oder zu entschlüsseln. Manchmal hat Steiner einen Gedanken durch eine zeichnerische Geste belebt – für sich und das Publikum als Denkchiffre markiert. Die Metaphorik der Tafelzeichnungen und die Unmittelbarkeit ihrer Bildwirkung können als Gründe für die Integration der Kreidezeichnungen Steiners in den heutigen Kunstdiskurs angeführt werden.

Die Präsentation der Tafeln im Museum Liner Appenzell konzentriert sich anhand einer Auswahl von 56 Tafel-zeichnungen, darunter dreizehn Tafeln, die noch nie in der Öffentlichkeit vorgestellt wurden, auf die Bild- und Kreativitätstheorien Rudolf Steiners. Die Wandtafelzeichnungen kreisen um das Thema „Imagination – Intuition – Inspiration – Kreativität“, wobei der substantielle „rote Faden“ im Begriffsfeld der Wahrnehmung liegt. So, wie die von Steiner begründete Anthroposophie verkürzt als Lehre vom „Bewusstsein vom Menschsein“ charakterisiert werden kann, so kann die Ausstellung Ich bin das Bild der Welt, Rudolf Steiner – Wandtafelzeichnungen / Otto Rietmann – Photographien als ein Versuch bezeichnet werden, die ästhetischen und ethischen Thesen Rudolf Steiners als Teil einer letztlich noch nicht wirklich begründeten Bildwissenschaft zu betrachten, die zum tiefgehenden Verständnis künstlerischen Handelns gerade der Moderne und der Gegenwart wie auch zum Begreifen einiger Rezeptionsstrukturen oder -mechanismen von Kunstwerken beiträgt.

Die Vielfalt der von Rudolf Steiner in seinen Zeichnungen behandelten Themen ist auf den ersten Blick überwältigend, doch lässt sich beim näheren Hinsehen schon bald eine deutliche Zielrichtung ausmachen: Immer ging es Steiner um das Verstehen der Einheit von Mensch und Kosmos, von Form und Leben, von Geist und Materie und einer wieder herzustellenden Einheit von Kunst, Wissenschaft und Religion. In der Rückbesinnung auf die Ursprünge des Seins, in der kritischen Reflexion der Gegenwartsverhältnisse, seien sie wissenschaftlicher, künstlerischer oder auch politischer Natur, entwickelte er zugleich innovative Vorwärtsstrategien. Steiner liebte die Durchlässigkeit der Gedanken und setzte vor allem auf deren Vermittlungskraft: Von der Philosophie hin zur Naturwissenschaft, vom Menschen zum Kosmos, von der Religion zur sozialen Wirklichkeit. «Der Labortisch wird zum Altar werden müssen», so lautet eine seiner Devisen, die er immer wieder seinen Zuhörern zurief und die mehr als ein halbes Jahrhundert später Joseph Beuys mit seinem viel zitierten Ausspruch: «Die Mysterien finden am Hauptbahnhof statt» neu belebt hat.

Ein mehrfaches Fragezeichen innerhalb des Rundgangs bilden die Photographien des Studios Rietmann. Hier wird erstmals im musealen Raum das photographische Werk des St. Galler Photographen Otto Rietmann (1856 – 1942) vorgestellt, den man als wichtigsten Porträtisten Rudolf Steiners bezeichnen kann. Rietmann stand in engem Kontakt mit Steiner, photographierte für ihn und verwaltete einen Teil des photographischen Archivs des Goetheanums. Sein Sohn Oscar übernahm nach dem Tod des Vaters zusammen mit seiner Gattin dessen Photographisches Atelier. Die technisch herausragenden Photographien der Rietmanns formulieren in diesem Kontext die Fragen: Gibt es zeitlos gültige oder wahre Abbilder oder Abbildungen? Was geschieht mit dem Geist oder der Aura, wenn sie aus dem Bild verbannt werden? Und: Wann beginnt?

Die Ausstellung wurde in enger Zusammenarbeit mit dem Rudolf Steiner Archiv Dornach und der Kantonsbibliothek Vadiana St. Gallen realisiert.

Zur Ausstellung erscheint eine 160seitige Publikation im Steidl Verlag Göttingen, mit Essays von Walter Kugler, Thomas Ryser und Roland Scotti.

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ICH BIN DAS BILD DER WELT
Rudolf Steiner – Wandtafelzeichnungen
Otto Rietmann - Photographien
Kurator: Roland Scotti