press release only in german

Galerie Schlichtenmaier
Stuttgart, Kleiner Schlossplatz

9. Mai – 1. Juli 2023
Eröffnung: Freitag, 19. Mai 2023, 19.30 Uhr
Zur Eröffnung spricht Dr. Günter Baumann

Informel
Der Drang nach Freiheit

Künstler der Ausstellung:
Peter Brüning, Carl Buchheister, Emil Cimiotti, Karl Fred Dahmen, Eberhard Fiebig, Winfred Gaul, Karl Otto Götz, Otto Herbert Hajek, Gerhard Hoehme, Brigitte und Martin Matschinsky-Denninghoff, Georg Karl Pfahler, Paul Reich, Bernard Schultze, Emil Schumacher, K. R. H. Sonderborg, Fred Thieler, Hann Trier, Marie-Louise von Rogister und Fritz Winter

*

Die Suche nach dem formlosen Urzustand

»Freiheit war das Grundgefühl.« (Bernard Schultze)

Widersprüchlicher könnte eine Stilbezeichnung kaum sein: darin liegt die Stär- ke einer Bewegung, die immerhin nach den menschenverachtenden Jahren des Nationalsozialismus und der Katastrophe des Weltkriegs antrat, um die Freiheit des Geistes zu feiern. Das Informel war jedoch kein allein deutsches Phänomen. Es hatte im US-amerikanischen abstrakten Expressionismus und im Action Painting eines Jackson Pollock Vorläufer und es fand Widerhall in Frankreich mit der lyri- schen Abstraktion. Dort wurde auch der Begriff des Tachismus geprägt, der sich auf die deutsche Kunst übertragen ließ, die aber dem auch in Frankreich erstmals verwendeten Begriff der »art informel« den Vorzug gab. Der erschöpfte sich nicht im »Fleck« (›la tache‹), sondern bot einen freien Gestaltungsraum innerhalb ver- schiedener Gruppierungen (Quadriga, Zen 49, Gruppe 11 usw.) im informellen Austausch sowie im Zelebrieren der Formlosigkeit, inklusive der Erkenntnis, dass im Formlosen durchaus Formprinzipien enthalten seien. All das macht deutlich, dass der Begriff des Informel als bloße Stilzuweisung zu kurz greift. Es geht viel- mehr um eine Haltung, die sich in zahlreichen individuellen Bildsprachen äußert, schwer zu fassen ist – und doch bis heute fasziniert, als seien ›die Informellen‹ die ewigen Garanten einer entfesselten Phantasie. Wenn sich gegenwärtig die selbsternannten Potentaten dieser Welt vereinen und sich nicht scheuen, der frei- en Welt durch erneute Kriege eine andere Weltordnung aufzuzwingen, ist es sinnvoll und anregend, sich mit den urgründigen Setzungen zu befassen. Die Schöpfung aus dem Nichts nach 1945 – man denke an die Vertreter der deut- schen Gruppe Zero oder der niederländischen Gruppe »Nul« – erwies sich als Illusion, doch die Protagonisten des Informel waren visionär genug, um die Welt fernab ihrer Gegenständlichkeit aufs Neue zu erfinden und zum Ausdruck einer ganzen Generation zu machen. Dem Begriff nach mag das Informel die Form verleugnet haben, doch formulierte es neue Bildbegriffe. K.O. Götz, Bernard Schultze, Emil Schumacher, K.R.H. Sonderborg, Fred Thieler – um nur die bekanntesten zu nennen – sind unverkennbar, obwohl sie alle sich der gestischen Malerei verschrieben haben. Es gibt viele Handschriften, die dieser Wucht der Geste, der Assoziationsmacht des Zeichens und der Innovationskraft zu einer vielstimmigen Partitur verhelfen. Informel: das bedeutet Aufschrei gegen die dik- tatoriale Barbarei, Aufbruch in eine neue Art bildnerischen Gestaltens und Aus- bruch aus der Norm. Das Informel war ein Sammelbecken verschiedener Temperamente – mal drastisch, mal poetisch, mal wild und mal zartfühlend. Der (Neo-)Impressionismus und Expressionismus zeigten bereits Auflösungs- tendenzen in Bezug auf das Naturvorbild und der Kubismus, wiewohl fernab gestischer oder tachistischer Farbführung, erwies sich durch seine Zerlegung der Dingwelt als Alternative der Kunst gegenüber der sichtbaren Welt. Von Frankreich aus wirkte die Écriture automatique des Surrealismus auf die Nachbardisziplinen, namentlich auf Karl Otto Götz, dessen lyrisches Werk auch immens ist. Sein Werk ist auch das beste Beispiel für die Inspiration der grundsätzlich abstrakten Musik auf die gestische Malerei – der Jazz, aber auch Ligeti, Xenakis u.a.m. stimulierten ihn. Wassily Kandinskys Suche nach dem Geistigen und Willi Baumeisters Loblied auf das Unbekannte in der Kunst bestärkten die Informellen bei der Entdeckung ihrer je eigenen Bildwelt. Wieder war es Karl Otto Götz, der früh die Bekannt- schaft mit Baumeister suchte, lange bevor Kollegen wie Peter Brüning, Winfred Gaul oder Karl Georg Pfahler nach Stuttgart pilgerten, um bei ihm zu studieren.

Und er war es auch, der das Informel als europäische Bewegung etablierte, nicht zuletzt dadurch, dass er als selbst noch Suchender in den späten 1940er Jahren mit der Künstlergruppe CoBrA ausstellte – in diese Jahre fällt auch die Freund- schaft zu Carl Buchheister, der auf das Informel wirkte wie auch Paul Klee mit sei- ner Einbindung des Zufalls in die Kunst, Adolf Hölzel mit seinem Primat der Mittel, insbesondere der Farbe, oder Fritz Winter, der die Urkräfte der Erde beschwor. Dass sich in der ostasiatischen Kalligrafie Zufall und Gestus zu einer Einheit ver- schmolz, sei hier nur angedeutet. Um die Jahrhundertmitte sah Götz in Paris Arbeiten von Jackson Pollock und Willem de Kooning, die ihn weniger beeinflus- sten, als dass sie ihn anspornten, »künstlerisch qualitativ Vergleichbares, auf mei- ne Weise, ... anzustreben«. So fand er 1952 zu einer innovativen Maltechnik, die er bis ins hohe Alter beibehielt: Die grundierten Leinwände bedeckte er mit dünnflüssigem Kleister, um darauf in Blitzeseile Farbe aufzutragen und sie mit einer Rakel in ihrem Fluss über den Malgrund zu treiben. Waren die Geschwindigkeit und der Zufall entscheidend für die Bildherstellung, blieb die Kunst all der Infor- mellen fern jeglicher Willkür. Vom Ergebnis ließ man sich nicht selten überraschen. Wenn man das Informel kategorisieren wollte, würde man Götz der zeichneri- schen Ausrichtung zuordnen. Abgesehen von den »Giverny«-Bildern oder einzel- nen Capriccios wie »Kely« verwendete er eher wenige Farbtöne, reduzierte sie sogar gern auf Schwarz und Weiß, um in seiner grafisch-skripturalen und körper- betonten Dynamik breite Linienbahnen über die Leinwand zu ziehen. Im Tempo als Prinzip, der Bevorzugung schwarzweißer Malerei und der noch deutlicher line- aren Tendenz kam K.R. H. Sonderborg den Intentionen von Götz nahe, doch wird gerade hier im Vergleich deutlich, wie uneinheitlich die informellen Werke sind. Die monumentalen Tuschearbeiten und Gemälde Sonderborgs entstehen weni- ger im Fluss als aus einer energetischen Rhythmisierung heraus, die zuweilen den Tanz mit einbeziehen. Sonderborg hat auch ein vielfältiges grafisches Werk hin- terlassen, das verdeutlicht, dass die technischen Zwänge nicht gegen den gesti- schen Impuls des Informel steht, zumal die Lithografie und die (Ätz-)Radierung eine malerische Wirkung entwickeln können, die bei Thieler, Trier und Schultze zu Höhepunkten der Druckgrafik führen. Fred Thieler, der neben Götz und Schuma- cher sicher zu den bedeutendsten Vertretern des Informel gehört, fand unter dem Eindruck von Pollocks Dripping-Bildern zu einer eigenen Weise von Schütt- bildern, die er mit Spachteln, Lappen und Pinseln bearbeitete, teilweise als Stoff- collagen ins Relief erhöht. Er verzichtete gänzlich auf Vorarbeiten, nahe an der Idee einer ›Creatio ex nihilo‹, wohl wissend, dass über all seinen Arbeiten der überbordende Atem einer kosmischen Gestimmtheit lag. Von Thieler aus, der trotz der Spontaneität seiner Allover-Malerei wohlüberlegt dem Ergebnis zuarbei- tete und auch erst am Ende seiner am Boden liegenden Leinwände das Oben und Unten festlegte, lässt sich eine Brücke schlagen von den Aktionsmalern zu den Vertretern einer lyrisch-phantastischen Gruppe von Informel-Kollegen, die nicht nur materialbetonter, sondern auch weniger spontan auf der Leinwand arbeite- ten. Rein malerisch wäre hier Hann Trier zu nennen, der wie Thieler bewies, dass das gestische Informel auch als Deckengemälde funktionierte – wie die monu- mentalen Beispiele in Schloss Charlottenburg in Berlin (Trier) oder im Münchner Residenztheater (Thieler) zeigen. Gegenüber dem metaphysischen Raum bei Thie- ler orientiert sich Schumacher in seiner Archäologie des Seins an der irdischen Oberfläche. Hann Triers Markenzeichen ist seine beidhändige Malerei, die nicht nur dem Automatismus huldigte, sondern auch einer sehr speziellen Doppelrhyth- misierung frönte. Waren hier der Phantasie assoziativer Impulse schon keine Gren- zen gesetzt, belebten Karl Fred Dahmen, Gerhard Hoehme und Bernard Schultze die Leinwände durch heftigen Materialeinsatz, der mit pastosen Farbaufhäufun- gen, d.h. über Materialbilder (Hoehme) und Materialkästen (Dahmen), bis hin zu reinen Farbskulpturen reichte, die in den sogenannten Migofs von Schultze kulmi- nierten. Apropos: Während schon die spannenden, auch experimentellen Ausflü- ge in die dritte Dimension zeigen, dass Plastiken entgegen ihrer formalen Präsenz informel sein können, tritt eine Reihe namhafter Bildhauer auf, die der Haltung nach ins Bild gestischer Kunst passen: Emil Cimiotti, Otto Herbert Hajek, Brigitte und Martin Matschinsky-Denninghoff sowie Paul Reich. Neben Brigitte Matschin- sky-Denninghoff gibt es – das sei nicht nur nebenbei betont – auch informelle Künstlerinnen wie Marie-Louise von Rogister (Anja Decker oder Christine Boumeester könnte man hier zudem noch anführen). Brüning, Gaul, Hajek und Pfahler sahen das Informel eher als temporäre Werkphase an, die bei ihnen nur bis in die frühen 1960er Jahre währte, bevor sie sich auf andere, nahezu konträre Wege machten. Die Haltung aber blieb – den Augen-Blick einer antiklassischen Malerei und den unbändigen Drang nach Freiheit im Visier.

Günter Baumann