Städel Museum, Frankfurt

Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie | Dürerstr. 2
60596 Frankfurt

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In der isolierten musealen Präsentation läuft das einzelne Kunstwerk bisweilen Gefahr, primär als ästhetisches Phänomen, nur als „schönes Bild“ rezipiert zu werden. Die ursprüngliche Funktion des spezifischen Werks, sein historischer Hintergrund, die ikonografischen Aussagen, der Anspruch und das strategische Ziel, welches der Künstler oder der Auftraggeber verfolgte, die revolutionären Neuerungen im Bereich von Bildaufbau, -gestaltung und -technik und vieles mehr bleiben dabei im Hintergrund. Aber es ist erst die ganzheitliche Erfassung der Bedeutung des Kunstwerks im Hinblick auf seinen künstlerischen, historischen, religiösen, soziologischen und marktwirtschaftlichen Kontext, die uns die Möglichkeit gibt, seinen wahren Gehalt und seine Aktualität für uns heute und für die Geschichte zu erkennen.

Jan van Eycks „Lucca-Madonna“ gehört zu den bedeutendsten Werken des Städel und steht am Anfang einer neuen Ausstellungsreihe, die sich jeweils anhand eines Meisterwerks aus der Sammlung den unterschiedlichen Perspektiven der Wahrnehmung eines Kunstwerks widmet. In der Ausstellung wird die Formulierung der facettenreichen Rezeptionsebenen des Kunstwerks als aktueller, evolutionärer Forschungsprozess präsentiert, wobei neben der Kunstgeschichte auch Erkenntnisse aus anderen Disziplinen wie der Soziologie, der Mentalitäts-, Frömmigkeits- und Wissenschaftsgeschichte und Ergebnisse aus naturwissenschaftlichen Untersuchungen Eingang finden. Im Raum wird sich dieser Ansatz in Form von wandfüllenden, Farbkopien, Schriftstücke und Diagramme umfassenden „mind maps“ niederschlagen, die den Zugang zu den Inhalten und Hintergründen des Werkes von unterschiedlichen Blickwinkeln her erschließen.

Die Ausstellungsreihe „Fokus auf“ wird von der Schering-Stiftung gefördert.

Jan van Eyck stammte – wie sein älterer Bruder Hubert – vermutlich aus dem nördlich von Maastricht gelegenen Ort Maaseik. Jans Geburtsjahr kann um 1390 angenommen werden. Im Oktober 1422 stand er in Den Haag im Dienst des Grafen von Holland, Johanns von Bayern. Nach dessen Tod siedelte Jan van Eyck nach Brügge über und wurde 1425 zum Hofmaler Philipps des Guten, des Herzogs von Burgund, ernannt. Bis 1429 arbeitete Jan vor allem in Lille, unterbrochen nur von diversen, z. T. geheimen Reisen im Auftrag des Herzogs. Vermutlich nach 1430 zog Jan nach Brügge um, wo er bis zu seinem Tode Ende Juni 1441 mit nur kurzen Unterbrechungen durch Reisen blieb.

Bereits von Vasari als „Erfinder“ der Ölmalerei und Gründer der niederländischen Malerei gefeiert, gilt Jan van Eyck bis heute neben Robert Campin, Rogier van der Weyden und Hugo van der Goes als wichtigster Künstler des 15. Jahrhunderts in den Niederlanden, zugleich als einer der bedeutendsten europäischen Maler überhaupt. Mit seiner unvergleichlichen Maltechnik, die er nicht erfunden, wohl aber entscheidend verfeinert hat, mit seinen brillanten Bildlösungen wie mit seinem souveränen Umgang mit der Bildtradition hat der Künstler im 15. Jahrhundert nicht seinesgleichen. Das Jan van Eyck eigene Bewusstsein seiner überragenden Künstlerpersönlichkeit spiegelt sich nicht nur in der erstmalsvon ihm gepflegten Praxis, Bilder zu signieren und zu datieren, sondern in besonderer Weise auch im Gebrauch seines Mottos »AΛC IXH XAN« (So gut, wie ich es vermochte).

Die „Lucca-Madonna“ in der Sammlung des Städel entstand in den späteren 1430er Jahren und zeigt Jan van Eyck auf dem Höhepunkt seiner künstlerischen Möglichkeiten. Auf dem 66 x 50 cm großen, auf Eichenholz gemalten Bild sehen wir eine thronende Gottesmutter, die ihrem Kind die Brust gibt. Das Bild ist nach jenem Ort in der Toskana benannt, an dem es im frühen 19. Jahrhundert zum ersten Mal historisch fassbar wird. Die Madonna thront mit ihrem Kind in einem kleinen Raum, der fast zur Gänze von den Figuren beherrscht wird. Maria ist das gesamte zeitgenössische Instrumentarium herrscherlicher Macht- und Prachtentfaltung beigelegt: das perlenbesetzte Diadem mit Stirnjuwel, das goldgesäumte und hermelingefütterte blaue Kleid unter dem weiten roten Umhang mit perlen- und edelsteinbesetzten Goldborten, der kaukasische Knüpfteppich zu ihren Füßen, der hölzerne Thron auf einem Podest, die aus Messing gegossenen Löwenfiguren auf Arm- und Rückenlehnen, das kostbare Goldbrokattuch für Thronhintergrund und -baldachin. Das detailverliebte zeitgenössische Kolorit dient aber nicht einer generellen „Entsakralisierung“ der heiligen Gestalt, sondern vielmehr einer besonders plausiblen und eingängigen Darstellung Mariens als Himmelskönigin. Der Thronraum ist kein topografisch präzise zu lokalisierender Raum. Er steht in einem abstrakten Sinn für einen transzendenten Ort im Himmel, im Paradies, der aber zugleich in der Form zeitgenössischer Architektur und Raumausstattung wiedergegeben wird. In diese Richtung weisen auch die Gegenstände, die zugleich ins Bild gesetzt worden sind und die sich nun im Kontext der herrscherlichen Repräsentation nur bedingt oder gar nicht sinnvoll unterbringen lassen: Südfrüchte, ein Waschbecken mit unberührtem Wasser, eine halbgefüllte Glasflasche, ein leerer Kerzenhalter.

Sie sind Teil eines für das mittelalterliche Denken ganz selbstverständlichen Denksystems symbolischer Querverweise, für welche die Kunstgeschichte den Begriff der „verhüllten Symbolsprache“ geprägt hat. In ihrem Sinn „verhüllt“ mag die Frucht in der Hand des Christusknaben für den Menschen des 21. Jahrhunderts sein, für den mittelalterlichen Menschen – und auch noch für den Betrachter bis zu den einschneidenden Epochenschwellen zur „Moderne“ um 1800 – war an der Bildsprache der „Lucca-Madonna“ und an ihrer Symbolik wenig „verhüllt“. Der „neue Adam“ Christus – in der Hand eine Frucht – und die „neue Eva“ Maria überwinden in der Menschwerdung Gottes die Folgen des Sündenfalles, der bekanntlich mit dem verbotenen Fruchtgenuss des ersten Menschenpaares vom Baum der Erkenntnis begonnen hat. Christus hat, auf dem Schoß seiner Mutter sitzend, zugleich auf dem löwengeschmückten „Thron Salomonis“ Platz genommen und wird so in seiner genealogischen Abstammung von den Königen von Juda, von David und Salomon gefeiert. Zugleich spielt der Thronsitz des sprichwörtlich weisen Königs Salomo aber auch auf Christi zukünftige Rolle als Weltenrichter am Ende der Zeiten an und verbindet so die beiden zeitlichen Pole des göttlichen Heilplans miteinander: den Beginn menschlichen Daseins mit dem Stammelternpaar Adam und Eva und das Ende der Welt im Jüngsten Gericht.

Mariens Rolle in diesem Heilsplan wird ebenfalls symbolisch kommentiert: Auf ihre Tugenden, die sie erst zur Gottesmutter, zur Gottesgebärerin und Gottesnährerin, haben werden lassen, spielen vor allem das Waschbecken und die Glasflasche an. Das unberührte Wasser macht auf augenfällige Weise ihre „Reinheit“ deutlich, und es bezieht sich ebenso auf das Wunder der Jungfrauengeburt wie die lichtdurchströmten Butzenscheiben des Fensters oder die Glasflasche in der Nische. „So wie der Lichtstrahl durch das Glas hindurchgeht, ohne es zu zerstören, so ist Maria Mutter geworden, ohne ihre Jungfräulichkeit zu verlieren“, heißt es beispielsweise in zahlreichen die Gottesmutter verherrlichenden Texten des 14. und 15. Jahrhunderts.

Das vor Jan van Eycks Bild sich auch beim heutigen Betrachter spontan einstellende Gefühl von Unmittelbarkeit und Intimität verdankt sich einem raffinierten Gestaltungskalkül des Malers. Hierzu trägt nicht zuletzt die raffinierte Komposition bei, die den Eindruck vermittelt, der Bildraum setze sich vor dem Gemälde fort. So wird etwa der Teppich von der Bildfläche fragmentiert, als ende er erst außerhalb des Bildraums und damit bereits im Betrachterraum. Das Fenster links und die Blindnische rechts sind im Bild nur exakt zur Hälfte dargestellt. Schließlich ist auch die Decke der Thronraums der Madonna so angelegt, dass sie sich in präzise berechenbarer Weise diesseits der Bildfläche im Betrachterraum fortsetzen muss. Es ist vor allem diese Anlage, die zusammen mit der intimen Szene der ihr Kind stillenden Mutter die unmittelbare Wirkung des Bildes auch auf den heutigen Betrachter ausmacht. Jan van Eyck macht uns zu einem Teil des Bildes, welches dadurch zugleich in seiner Existenz als Bild grundlegend in Frage gestellt wird. Der überwältigende Detailrealismus, den Jan van Eyck glänzend bis auf die unscheinbarsten Kleinigkeiten wie den Teppichflor, der über die Thronstufe aufbricht, anwendet, behauptet höchst erfolgreich, was die zeitgenössische Bildtheologie als Belohnung für den rechten Bildgebrauch verheißt: Das Urbild selbst, die Gottesmutter mit ihrem Kind, ist vor den Augen des frommen Betrachters an die Stelle des Abbildes, des von Jan van Eyck gemalten Tafelbildes, getreten.

Kurator: Priv. Doz. Dr. Jochen Sander Gestaltungskonzept: Bluetango-Kreativ-Team um Lo Breier, Wien

Katalog: „Fokus auf Jan van Eyck: Lucca-Madonna, um 1437/38 (Inv. Nr. 944)“. Hrsg. vom Städel Museum. Mit einem Vorwort von Max Hollein und einem Beitrag von Jochen Sander, 52 Seiten, mit farbigen Abbildungen. Grafische Gestaltung: Lo Breier, Bluetango, Wien. Städel Museum 2006.

Pressetext

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Fokus auf Jan van Eyck: Lucca-Madonna
Um 1437/38 (Inv. Nr. 944)
Kurator: Jochen Sander