press release only in german

Javier Téllez (geb. 1969 in Valencia/Venezuela, lebt und arbeitet in New York) zählt zu den international bekanntesten Gegenwartskünstlern: Seine Arbeiten waren u.a. an der Manifesta 7 in Trento, an der letztjährigen Whitney Biennale und an den Biennalen von Sydney in den Jahren 2004 und 2008 zu sehen. Das Kunsthaus Baselland ist stolz, drei markante Arbeiten der letzten Jahre vollumfänglich zu präsentieren.

Das aktuellste, erstmals im November 2008 vorgestellte filmische Werk „Caligari und der Schlafwandler“ wird im Kunsthaus Baselland in Form einer Installation erst zum zweiten Mal präsentiert. Der Film, entstanden zur Ausstellung Rational/Irrational im Haus der Kulturen der Welt in Berlin, ist eine Art Collage aus inszenierten Dialogen und dokumentarischen Interviews mit Patienten der Berliner Vivantes-Klinik. Wie bei fast allen seinen Filme bleibt Téllez auch im jüngsten seinem langjährigen Interesse an psychiatrischen Einrichtungen und dem Hinterfragen von vermeintlich normalem und pathologischem Verhalten treu. Téllez, dessen Eltern beide Psychiater sind, kam früh mit der Problematik des gesellschaftlich Anders- und Stigmatisiert-Seins in Kontakt. In seinen Filmen sind Kooperationen mit Laienschauspielern, wie beispielsweise Patienten psychiatrischer Kliniken, ein wiederkehrendes Charakteristikum. Im Dialog mit den sorgfältig gecasteten Laienschauspielern erarbeitet Téllez in „Caligari und der Schlafwandler“ eine filmische Referenz an den berühmten Stummfilmklassiker von Robert Wiene „Das Kabinett des Dr. Caligari“ (1920). Wienes Film gilt als Meilenstein des expressionistischen Films und als erster Horrorfilm. Darin berichtet ein Mann im dunklen Anzug seinem Gesprächspartner von der Geschichte des Dr. Caligari und dessen schlafwandelnden Assistenten Cesare, der von seinem Meister für mörderische Absichten missbraucht wird. Am Ende des Films stellt sich jedoch heraus, dass der Erzähler Patient einer psychiatrischen Klinik ist und der vermeintliche Mörder ein Arzt. Die Erzählung einer zunächst als real wahrgenommenen Geschichte kippt und entpuppt sich als Wahnvorstellung. Téllez greift die sich in Wienes Film herausschälenden Zweifel an den Realitätsebenen auf und verstärkt diese in seiner eigenen Version, die vor Erich Mendelsohns legendären Einsteinturm in Pottsdam spielt. So lässt Téllez beispielsweise Cesare (gespielt vom Schauspieler-Patienten Henry Buttenberg), welcher dem Jahrmarktpublikum von Dr. Caligari (gespielt vom Schauspieler-Patient Hanki) als wundersamer Schlafwandler vom Sklavenstern vorgeführt wird, mit Hilfe einer beschriebenen Schiefertafel mitteilen, dass „Der ganze Stern eine Psychiatrie [ist]“. An anderer Stelle erklärt Hanki, der kurzfristig die Rolle des Dr. Caligari aufgibt, dass sich seine Psychose so bemerkbar mache, „dass ich dann in einem anderen Film bin“. In Téllez’ Film vermischen sich die Ebenen von Realität und Fiktion zu einem nicht mehr zu entflechtenden Gesamten. Er selbst schreibt: „We could describe my practice as documentation of fictional rehearsals more than something that could either fit within the rigid categories of fiction and documentary.“ (in einem bisher nicht veröffentlichten Interview mit Mark Beasley) In der Ausstellung wird der Film in einem eigens dafür produzierten „Haus“ präsentiert, dessen Wände aus Schiefertafeln bestehen, was ein schriftliches und/oder zeichnerisches Interagieren der BesucherInnen zulässt.

Im Jahre 2004 entstand in Zusammenarbeit mit einer Gruppe weiblicher Patientinnen des Rozelle Hospitals in Sydney die 2-Kanal-Videoinstallation „La Passion de Jeanne d’Arc (Rozelle Hospital)“ und „Twelve and a Marionette“, die sich ebenso wie „Caligari und der Schlafwandler“ auf einen historischen Referenzfilm bezieht. Der von Carl Theodor Dreyer inszenierte Stummfilm „La Passion de Jeanne d’Arc“ von 1928 konzentriert sich v.a. auf die Emotionen der Jeanne d’Arc (gespielt von der Schauspielerin Maria Falconetti) — gespiegelt in Grossaufnahmen ihres Gesichts — im Konflikt mit den kirchlichen Inquisitoren. Zusammen mit ausgewählten Laienschauspielerinnen-Patientinnen entwirft Téllez dazu neue Zwischentitel: Mit Kreide auf Schieferplatten geschrieben, wird das ursprüngliche Martyrium der Jeanne d’Arc zur Geschichte einer neu in die Klinik aufzunehmenden Patientin, die unter der Wahnvorstellung leidet Jeanne d’Arc zu sein. Die historische Figur der Jeanne d’Arc ebenso wie Dreyers filmische Umsetzung der ursprünglichen Geschichte werden in Diskurse um Institutionalisierungprozesse von Krankenanstalten, psychiatrischen Aufnahmereglements, Medikationsfragen und dergleichen integriert. Der andere, auf die gegenüber liegende Wand projizierte Film „Twelve and a Marionette“ erzählt von ausgewählten Schauspielerinnen-Patientinnen und ihren individuellen Krankheits- und Klinikerfahrungen. Die Videoinstallation ist Téllez‘ erste Arbeit, die explizit die historische Konstruktion von psychischer Krankheit in Verbindung mit dem weiblichen Geschlecht aufdeckt und kritisch hinterfragt.

Für die Biennale InSite, eine Biennale, die sich der Kunst im öffentlichen Raum widmet, entwickelte Téllez im Jahre 2005 die Arbeit „One Flew Over the Void“. In Zusammenarbeit mit Patienten des CESAM State Psychiatric Hospital bei Mexicali organisierte der Künstler eine Art öffentliches Spektakel. Zu sehen sind ein Marsch der Patienten mit beschriebenen Schildern, kleinere sketchartige Einlagen, das Trompetensolo einer traditionellen Mariachi Ballade ebenso wie — als Höhepunkt — eine zirkusähnliche Nummer, bei welcher David Smith als menschliche Kanonenkugel über die Grenze von Mexiko und den USA geschossen wird. Die Arbeit funktioniert sowohl als Event wie als Film. Der Einsatz karnevalesker Mittel hilft bei der Demystifizierung hierarchischer Beziehungsgeflechte, wie dies der russische Philosoph Mikhail Bakhtin dargelegt. Den Karneval charakterisiert er als eine „celebrated temporary liberation from the prevailing truth and from the established order; it marked the suspension of all hierarchical rank, privileges, norms and prohibitions“ (in „Rabelais and His World“, Indianapolis University Press, 1984, p. 10). In „One Flew Over the Void“ tragen die Patienten Tiermasken und machen mit Schildern auf ihr Dasein am Rande der Gesellschaft aufmerksam. „La realidad entre la sanidad mental y la perdida de la razón es muy tenue“ (Der Spalt zwischen mentaler Gesundheit und dem Verlust der Vernunft ist ein sehr kleiner), steht beispielsweise auf einem der Schilder geschrieben. Mit dem Überfliegen der Grenze zwischen den Playas de Tijuana und dem Border Field State Park in San Diego schafft „Human Cannonball“ David Smith stellvertretend und symbolisch für viele den Sprung in die mentale und physische Freiheit.