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JORINDE VOIGT - SONG OF THE EARTH -
CHAPTER 1: RADICAL RELAXATION (STRESS + FREEDOM),
CHAPTER 2: THE SHIFT
17.09. - 12.11.2016
KLANGSPUREN SCHWAZ UND KUNSTRAUM INNSBRUCK KUNST WIRD PARTITUR

ERÖFFNUNG MIT URAUFFÜHRUNG JORINDE VOIGT  
Fr., 16.09., 18.30 Uhr

in Kooperation mit Freunde Guter Musik Berlin, Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof - Museum für Gegenwart – Berlin.

Die Künstler Jorinde Voigt und Christian Marclay verbinden Bildende Kunst mit Musik, indem sie eigens dafür geschaffene Werkserien von den Ensembles zeitkratzer und ensemBle baBel musikalisch interpretieren lassen. Die interdisziplinäre Präsentation ist eine Premiere für Klangspuren Schwaz und Kunstraum Innsbruck, die in Kooperation mit Freunde Guter Musik Berlin e.V. und Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof in Berlin die Werke zur Ausstellung und Uraufführung bringen.

Die Partitur mit ihrem Liniensystem, den Noten, Taktstrichen und Vortragsbezeichnungen trägt die direkte Handschrift des Komponisten. Die lineare Aufzeichnung von Tempo, Taktart, Dynamik und Instrumentation wird vom Sänger oder Musiker in Klang und Musik übersetzt. Avantgarde-Komponisten wie John Cage, György Ligeti oder Iannis Xenakis begannen früh, mit der traditionellen Schreibweise zu experimentieren; sie öffneten Partituren hin zu expressiven und freien Bildkompositionen. Bei Jorinde Voigt und Christian Marclay steht die künstlerische Position in direkter Partnerschaft zu den musikalischen Interpreten. Kein Komponist, keine Partitur im konventionellen Sinne agiert als Schnittstelle. Trotz ihrer unterschiedlichen ästhetischen Zugänge eint beide Künstler die Idee, in grafischen wie in musikalischen Transkriptionen akribisch die Welt abzubilden.

Die sehr feinen Papierarbeiten von Jorinde Voigt ziehen den Betrachter trotz ihres Großformats in die Nahansicht und lassen sich wie Choreographien oder Handlungsanweisungen von Ereignissen und Alltagssituationen lesen. Die Künstlerin befragt in ihrer künstlerischen Praxis konsequent die Bedingungen des ihr Sichtbaren und Unsichtbaren. Rotierende Pfeile, ausladende Linien sowie schriftliche Angaben zu Dynamik und Tempo wie auch Raum und Zeit kulminieren ähnlich einer Partitur in einem repetitiven Kompositionsaufbau. Jede Papierarbeit benennt die Rotationsrichtung in Umdrehungen pro Tag, gliedert Zeiteinheiten in vorgestern, gestern, heute, morgen, übermorgen; hält die Himmelsrichtung und Ausrichtung zum Erdmittelpunkt fest und schließt jedes Werk mit einer „Now“-Linie ab, die nochmals den Entstehungsprozess gleich einer Erinnerung verdichtet. Mathematischen Algorithmen gleich komprimiert sie Erlebnis- und Erfahrungsberichte zu komplexen Aufzeichnungssystemen, sodass ihre Arbeiten eher als Versuchsanordnungen oder Denkmodelle denn alleinig als Zeichnungen zu beschreiben sind. Die Betrachtungsebene der Künstlerin folgt damit dem Versuch, emotionale und freigesetzte Energien in ihrer Gleichzeitigkeit festzuhalten. „Vom Prinzip ähnlich zur Notation einer Komposition in der Musik“, beschreibt die als Cellistin ausgebildete Künstlerin schon 2003 ihre Arbeiten, „werden visuelle und akustische Elemente rhythmisch angeordnet, zusätzlich mit Längen- und Breitengrad-Angaben geographisch festgestellt und in Bezug gesetzt zu Dauer und Geschwindigkeit“. Ihren mehrteiligen Werkserien legt sie unterschiedliche Themengruppen zugrunde, von performativen Alltagsbeschreibungen bis hin zur Untersuchung von philosophischen und gesellschaftstheoretischen Texten, Literaturbearbeitungen oder Musikkompositionen.

So widmete Voigt u.a. Niklas Luhmanns Abhandlung Liebe als Passion: Zur Codierung von Intimität oder den 32 Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven jeweils umfangreiche Serien. Die musikalische Untersuchung war immer Bestandteil ihrer Arbeit. Der 2009 entstandenen Werkserie Symphonic Area legte sie beispielsweise eine Meta-Partitur zugrunde, die jeweils die musikalischen Grundelemente: Melodie, Zäsur, Dynamik, Beat und Loop untersuchte, um die komplexen Möglichkeiten von Komposition und Musik an sich darzustellen. Oder sie widmete 2012, wie schon erwähnt, Ludwig van Beethoven und seinen 32 Klaviersonaten eine eigene Werkserie, indem sie das emotionale und dynamische Spektrum entlang des Urtextes extrahierte und in ein mehrdimensionales räumliches Denkmodell übersetzte. Assoziativer Ausgangspunkt ihrer neuen Serie ist Das Lied von der Erde von Gustav Mahler, welches auch in englischer Übersetzung den Übertitel der Serie ergibt. Den einzelnen Liedteilen Mahlers vergleichbar, konzentriert Voigt thematische Blöcke mit aktuellem Gegenwartsbezug und plant diese in mehr als sieben Kapiteln bildnerisch und musikalisch zu interpretieren.

Das erste Kapitel widmet die Künstlerin Peter Sloterdijks Essay Stress und Freiheit und seiner Herleitung von Rousseaus Freiheitsgedanken. Auf dem Bieler See in einem Boot im Wasser treibend, beschreibt Sloterdijk Rousseau sprichwörtlich als erstes frei denkendes Individuum. Mittels der blauen und fließenden Formelemente befragt die Künstlerin ebenso ihre wasserbezogenen Erinnerungen und Erfahrungen und ergänzt diese mit organisch anmutenden Körpern, die der Serie zusätzlich eine gewisse Vertrautheit verleihen. Die insgesamt sieben Meter lange Papierarbeit wird in sieben gleichwertige Teile übersetzt zur unmittelbaren Partitur und wird, wie auch das zweite Kapitel, vom Ensemble zeitkratzer unter der Leitung von Reinhold Friedl musikalisch interpretiert. Jedes der sieben Blätter ist in eine Spieldauer von jeweils drei Minuten untergliedert und ordnet jedem zeichnerischen Element – wie etwa den mittels blauer Farbflächen dargestellten Wasserflächen oder den mittels Zeichnung dargestellten Formen, die sich als Organe beschreiben lassen – unterschiedliche Instrumentengruppen zu. So übernehmen in der Partitur das Fagott, die Oboe und das Klavier gemeinsam die Wasserflächen, und die kleinen „grünen“ Gebilde spielen der Schlagwerker und die Cellistin, mit der Ansage der Künstlerin, diese in einer humoristischen Art zu spielen, so „als ob sie die Hand langsam und kurz in die spiegelnde Oberfläche eines kühlen Sees tauche“.

Das zweite Kapitel mit dem Übertitel The Shift beschäftigt sich mit der eigenen Praxis und hinterfragt die Existenz und Motivation künstlerischen Handelns. Dem ersten Kapitel der aufwendigen Werkserie ist eine limitierte und signierte Künstlerschallplatte gewidmet. So kann der interessierte Musik- und Kunstliebhaber nicht nur zwei Versionen des ersten Kapitels hören, sondern mittels eines siebenfach ausklappbaren Leporellos die Reproduktion der Originalzeichnungen wie auch die überarbeitete Partitur studieren.   Bei Jorinde Voigt und Christian Marclay steht die künstlerische Position in direkter Partnerschaft zu den musikalischen Interpreten. Kein Komponist, keine Partitur im konventionellen Sinne agiert als Schnittstelle.

Trotz ihrer unterschiedlichen ästhetischen Zugänge eint beide Künstler die Idee, in graphischen wie in musikalischen Transkriptionen akribisch die Welt abzubilden. Die Künstler Jorinde Voigt und Christian Marclay verbinden Bildende Kunst mit Musik, indem sie eigens dafür geschaffene Werkserien von den Ensembles zeitkratzer und ensemBle baBel musikalisch interpretieren lassen. Das besondere beider Kooperationen ist, neben dem interdisziplinären Dialog zwischen Künstlern und Musikern, die Erweiterung der künstlerischen Praxis in die freie musikalische Interpretation, die damit jede Aufführung einzigartig macht. Die Präsentation ist eine Premiere für KLANGSPUREN SCHWAZ und KUNSTRAUM INNSBRUCK, die in Kooperation mit Freunde Guter Musik Berlin e.V. und Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof - Museum für Gegenwart – Berlin die Werke zur Ausstellung und Uraufführung bringen.

Das besondere beider Kooperationen ist neben dem interdisziplinären Dialog zwischen Künstlern und Musikern, die Erweiterung der künstlerischen Praxis in die freie musikalische Interpretation, die damit jede Aufführung einzigartig macht.

Spielerisch sampelt Christian Marclay Comic- und Manga-Motive zu raumgreifenden Partituren, die von Sängern und Musikern als performative Handlungsanweisungen lautmalerisch wiedergeben werden. Marclay folgt hierbei unter anderem dem Prinzip der Onomatopoesie, einer Technik der Lautmalerei, bei der der Klang eines Wortes dessen Bedeutung darstellt. Auch der Betrachter solcher Werke ist verführt, vor seinem geistigen Auge mitzusingen, um diesen pulsierend tanzenden Wortketten Rhythmus und Sound zu geben. Mit einer in der Populärkultur üblichen Cut-and- Paste-Technik remixed Marclay unsere Gegenwart, etwa mit gefundenen Bild- und Filmausschnitten, Comics oder Graffitis.

In seiner Arbeit Zoom Zoom fotografierte er über Jahre hinweg Alltagssituationen, die klangreiche und musikassoziierende Wortbilder in Schriftzügen bzw. Logos auf Verpackungen, Drucksorten oder anderen Gegenständen wiedergaben. In einer vom Künstler live geschnittenen, digitalen Dia- Projektion werden die Einzelbilder zum Takt gebenden Erlebnisraum, den die New Yorker Vokalkünstlerin Shelley Hirsch mit ihrer Stimme szenisch kommentiert. Das Prinzip der Zufälligkeit der gefundenen Versatzstücke, die in ihrer Reihung keinen Anfang und kein Ende erkennen lassen, nimmt auch die Manga Scroll auf, die als „altjapanisches“ Rollbild von 20 Meter Länge vor den Augen des Stimminterpreten ausschnittweise abrollt. Eine neue Arbeit lässt Marclay von dem Schweizer ensemBle baBel „vertonen“, bei der Comic-Fundstücke auditiven Gehalts zu einer Partitur-Collage in Gestalt eines üblichen Comic-Heftes kombiniert werden. Mit seinen klingenden Cartoons spiegelt Marclay einen thematischen Hauptakzent des diesjährigen Festivals wider.

Karin Pernegger, Kunstraum Innsbruck
zusätzliche Informationen zu den Konzerten unter Klangspuren Schwaz