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Aus der subjektiven wie gleichermaßen geschulten Perspektive des Photographen, Sammlers und Kurators untersucht Wilhelm Schürmann anhand von über 140 Arbeiten zumeist photographischen Ursprungs die Parameter des Sehens und des Lesens von Bildern in ihrer Bedeutung des Ereignishaften.

Die wenigen Momente vor einem im Bild festgehaltenen Ereignis oder die kurzen Augenblicke danach manifestieren die Erwartungshaltung des Produzenten wie die des Betrachters, ohne dass das eigentliche Bild seinen Inhalt dechiffriert. „Das, was geschehen ist oder geschehen wird, ist dem Bild nicht unbedingt anzusehen. Erst die Gedanken des Betrachters vollenden das Geschehen“, schreibt Wilhelm Schürmann in einer Arbeitsnotiz zu diesem Buch– und Ausstellungsvorhaben und betont damit die trügerische wie reiche Projektionsfläche des aus dem zeitlichen Verlauf herausgelösten photographischen Bildes, das genau jene Spannungsmomente vor oder nach einer Handlung zu konservieren vermag.

Erst die thematische Bildreihe oder Werkgruppe eines einzelnen Autors würde die Wahrnehmung des Betrachters in der inhaltlichen Ausrichtung zu bestätigen wissen, das individuelle Bild aber bleibt – in seiner Ausschnitthaftigkeit oder literarisch gesprochen in seinem Plot – vieldeutig, spektral und ganz entscheidend auch ein Produkt des Rezipienten. Der Betrachter als gedanklicher Vollender des Geschehens ist gleichwohl selbst keine Carte blanche. Er bringt seinerseits erprobtes Wissen und Erfahrung in den Seh- und Erkenntnisprozess ein und sieht beziehungsweise denkt das Bild zu einem vorläufigen Ende. Dieser Prozess bleibt ebenso vage wie bestimmt, wie auch das Bild in seiner Aussage ein Kontinuum auf eine zweidimensionale Fläche bannt. Das eine existiert nicht ohne das andere, der Betrachter sieht nur das, was er erkennt und vice versa.

Ausgehend von der Auswahl, der Anordnung und Zusammenstellung der Bilder berührt die Ausstellung, wie schon vorausgegangene Projekte von Wilhelm Schürmann, im erweiterten Sinne Fragen der Identität sowie der Verortung von bildlich-ästhetischer Erkenntnis und beschreitet einmal mehr neue Wege der Rezeption von Kunst. Auf einer übergeordneten Ebene vollzieht Schürmann gleichsam den Prozess des „artist proof“ (und somit die Wahl- und Qualitätskriterien des Produzenten an ein gültiges Bild) nach und kommt in einem nächsten Schritt zu spannungsreichen Dialogen unterschiedlicher Künstler und Konzepte.

Dieses wache Auge impliziert die Hochachtung vor jedem gelungenen Bild oder Werk und belegt zugleich die Kenntnis des Photographen und Sammlers, der Komposition und technische Ausgewogenheit zu beurteilen vermag. Das Wissen um Qualität ist eine der Grundvoraussetzungen für interdisziplinäres Sehen, das sich in seinen Grundkomponenten auch dem Blick des Amateurs anzugleichen vermag. Diese Demokratisierung der Bilder, in diesem Fall nicht primär auf der Seite der Produzenten, sondern aus der Sicht des Kurators und Betrachters, ist im Einzelfall zu überprüfen und löst sich in der von Wilhelm Schürmann gesetzten Bildabfolge gleich auf verschiedenen Ebenen ein: formal-kompositorisch, thematisch und konzeptionell. Folgerichtig öffnet Schürmann sein Konzept auch für einen intermedialen Diskurs und fügt in die Ausstellung vereinzelt graphische, malerische und objekthafte Arbeiten ein, die ihrerseits das Medium der Photographie reflektieren oder sich formal und technisch auf diese beziehen.

Gängige Kriterien der Ausstellungskonzeption wie etwa Chronologie, Autorschaft und Technik treten in „kurzdavordanach“ in den Hintergrund und stattdessen werden die Präsenz und der Wirkungsgrad des Einzelbildes betont, das gleichzeitig in einen assoziativen gedanklichen Prozess eingebunden wird. Die Vielschichtigkeit und die mitunter rätselhaft komplexe Struktur eines jeden Bildes kommen so nochmals klar zum Tragen, und die üblichen wissenschaftlichen Methoden werden spielerisch und dennoch radikal in Frage gestellt. Darüber hinaus ironisiert Schürmann Klischees menschlicher Verhaltensweisen durch die bildliche Kommentierung von beispielsweise in Portraits eingenommenen Posen und Gesten und spielt mit philosophischen Paradigmen, als wären sie ein coup de dés, ein Würfelwurf im Mallarméschen Sinne, der den Zufall niemals aufheben wird.

Dr. Susanne Lange