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Lawrence Weiner. Any Given Time / Irgendwann
10.11.2002 – 12.01.2003

Eine Gebrauchsanleitung zu einer Arbeit von Lawrence Weiner

Der amerikanische Künstler Lawrence Weiner arbeitet mit Sprache und Schrift. Seine Wortfolgen sind in der Regel in Versalien auf Wände oder Mauern aufgetragen. Zumeist beziehen sie sich auf ihre Umgebung, auf den Ort, an dem sie angebracht werden, auf die Situation oder auf die Atmosphäre, die den Ort bestimmt. Weiners Worte sind Skulpturen: lm Sprechen der Worte, im Nachklang des Sprechakts, im Lesen, im gedanklichen Nachvollziehen des Gelesenen nehmen die Worte den ,,Raum" ein, der ihnen entspricht.

Folgen von Worten werden zu Konglomeraten von „Räumen", die wie die Syntax eines Satzes untereinander eine komplexe Beziehung eingehen. Die Wirkung dieser aufeinander bezogenen Worträume ergibt sich in der Vorstellung. Die Worte bezeichnen auf abstrakter Ebene Dinge, die einen Raum in der physischen Realität einnehmen, Nur setzen sie sich in eine Beziehung zueinander und verleihen ihnen dadurch Bedeutung.

Bei der Arbeit „ANY GIVEN TIME" („IRGENDWANN“) für die Synagoge in Stommeln hat der Künstler den kleinen Saal des ehemaligen Gotteshauses leer gelassen. Lediglich an der Außenwand hat er in silberfarbener, durchbrochener Schablonenschrift eine Wortfolge angebracht: „THINGS THEMSELVES ON TOP OF OTHER THINGS ON TOP OF SOMETHING ELSE NOW & THEN“, und nochmal in Deutsch daneben: .,DINGE SELBER AUF ANDEREN DINGEN AUF ETWAS ANDEREM JETZT & DANN". Die Frage, was Weiner mit dieser Arbeit meint, löst sich in dem Moment ein, in dem die Besucher beginnen. die Aussage der Worte zu diskutieren. Im Unverständnis von dem, was da bezeichnet wird. Im Suchen nach dem Zusammenhang der Worte und ihrer Bedeutung. Im Überlegen, was Haus und Schrift verbindet. In der Diskussion um die eigenwillige Übersetzung der amerikanischen Worte ins Deutsche.

Wie es “richtig" heißen müsste. Darüber nachdenken. was Sprache und Schrift mit einer Synagoge zu tun haben. Ob die Schrift an der Wand das biblische „Menetekel" meint. Dann überlegen, warum die Sprache (,,THINGS THEMSELVES") die Oberfläche (,,ON TOP") der Schrift („OTHER THINGS") nutzt, um auf der Oberfläche („ON TOP") der Synagogenmauer (,,SOMETHING ELSE") in Erscheinung zu treten. Und was dies ,,damals" bedeutet haben könnte, und was es ,,heute" („NOW AND THEN“) bedeutet. Und ahnen, was ,,irgendwann" (oder ,,jederzeit": „ANY GIVEN TIME") auf Synagogen geschrieben worden ist (oder geschrieben werden kann). Und verstehen, was der Künstler mit dieser Setzung hier getan hat. Oder was ihm zugemutet wurde. Und noch einmal in die Synagoge treten, um den leeren Gebetsräum mit seinen weißen und roten Fensterscheiben zu betrachten. Und dann darüber nachdenken (oder: zur Kenntnis nehmen müssen), ob all dies (oder all dies nicht) nur es selbst ist. Ob es eine Trauerklage, eine Warnung oder eine Prophezeiung ist. ln diesen vielen kleinen Momenten erhält die Skulptur Weiners die Plastizität, die sich der Künstler erhofft hat.

Andreas Denk

Der Text ist eine überarbeitete Version von „ON TOP. Lawrence Weiner und die Synagoge in Stommeln“, erschienen in: Der Architekt, Zeitschrift des Bundes Deutscher Architekten BDA, 12/2002, S. 11.