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Bis heute gilt die europäische Stadt als beispielhaftes Exportmodell. Als Hort bürgerlicher Emanzipation, kultureller Vielfalt und ökonomischer Innovation spiegelt sie die für überlegen gehaltene europäische Zivilisationsgeschichte. Doch erst das industrielle Zeitalter und die Kolonialisierung verbreiteten das europäische Stadtmodell weltweit.

In Europa gilt die bürgerlich regulierte Stadtgesellschaft als Norm, ein städtisches Leben jenseits dieser "civitas" jedoch als katastrophisch. Im globalen Maßstab zeigt sich eine dazu widersprüchliche Realität. Irreguläre Ökonomien und soziale Organisationsformen überlagern sich häufig mit staatlicher Unterdrückung, privatwirtschaftlicher Kontrolle und mafiöser Gewalt. Mit der "Globalisierung" kehren solche Muster, die hiesigen Ordnungs- und Demokratie-Vorstellungen widersprechen, in europäische Städte zurück. Sweatshops und Armutsökonomien, Korruption und privatwirtschaftlich überwachte Räume lassen die Norm der bürgerlich geordneten Stadt weltweit als Phantasma deutlich werden.

Learning from* thematisiert städtische Realitäten jenseits einer europäisch verstandenen "civitas", ohne vorgeprägte Bilder chaotischer Strukturen zu bedienen, die politisch-instrumentelle Perspektive eines neoliberalen Lernens von selbstorganisierten Überlebensstrategien einzunehmen oder einen romantischen Blick auf städtischen Alltag inmitten von Krisengebieten zu werfen. Hierzu werden künstlerische Projekte vorgestellt, die die Spannbreite des "dirty realism" in den Städten von Welt aufzeigen - zwischen Märkten und Verkehr, Konflikten und Architekturen. Das besondere Augenmerk liegt auf Organisationsformen innerhalb vermeintlich chaotischer Strukturen und auf den irregulären Momenten inmitten scheinbarer Ordnungen:

Der größte informelle Markt Ost-Europas, der Arizona-Markt, liegt im Brcko-Distrikt im Nordosten Bosnien-Herzegowinas. Eng mit den Planungen der SFOR-Truppen verbunden, hat er im Laufe seiner Entstehung ein selbstorganisiertes System mit verschiedenen Zonen, sozialen Organisations- und Informationsstrukturen herausgebildet. In Kürze wird er jedoch durch ein modernes Einkaufszentrum ersetzt. Margareth Otti dokumentiert diesen Prozess anhand von architektonischen Modellen. Der "Jarmark Europa", ein Markt in einem stillgelegten Sportstadion in Warschau, ist Ziel vieler KofferhändlerInnen aus der ehemaligen Sowjetunion, die ihre Waren persönlich über die Grenze transportieren. Minze Tummescheit hat mit der Kamera zwei dieser Frauen auf ihren Wegen zwischen Heimatort und dem Basar begleitet.

Der formellen, bürgerlichen Sicht auf die Lebens- und Wohnbedingungen in der 13 Millionen-Stadt Istanbul stellen Martin Kaltwasser / Folke Köbberling Zitate von Gecekondu-Bewohnern gegenüber, denen ihr zunächst informell errichtetes Haus oftmals die einzige Lebenssicherheit ist. Orhan Esen setzt in der Installation "performance without licence" dem besonders durch die ansässige Bildungsschicht artikulierten Schreckensbild des alltäglichen Istanbuler Verkehrschaos die ausgeklügelte Vielfalt des selbstorganisierten städtischen Personennahverkehrs entgegen. Auch inmitten der Transportsysteme Mumbais, die allgemein als besonders langsam und unzuverlässig gelten, funktioniert das hochkomplexe System der informellen Essensdistribution durch 5.000 "Dabbawallas" jeden Tag pünktlich. Shilpa Gupta hat einen Computerspieltrailer entwickelt, der die Zirkulation und den hohen Grad an Selbstorganisation dieses Verteilungssystems demonstriert.

Lange vor dem sogenannten "Kampf gegen den Terror" hat der "schmutzige Krieg" in Nordirland Bürgerrechte und den Schutz der Privatsphäre außer Kraft gesetzt. Anhand von Bildmaterialien stellt Jochen Becker den Verlauf und die "Normalität" dieses langjährig schwelenden Krieges dar. Der städtische Low Intensity War wurde von der britischen Armee in der von Andree Korpys / Markus Löffler fotografierten "Fighting City" in Berlin-Ruhleben trainiert und in Belfast ausgeübt. Heute verspricht Belfast, nach Beendigung des Bürgerkriegs, eine prosperierende Stadt zu werden, auch wenn dies bislang nur auf unzähligen Bauschildern steht, die John Duncan in seiner Fotoserie "Boomtown" dokumentiert hat. Die weitreichende Produktivkraft von Verbrechen für die Entwicklung von Sicherheitstechnik, Architektur und Städtebau untersucht Michael Zinganel am Beispiel Wiens.

Die "Universal Embassy" wurde vor einem Netzwerk aus AktivistInnen und "Sous Papiers" in dem verlassenen Gebäude der ehemaligen Botschaft von Somalia in Brüssel eingerichtet. Martin Krenns Serie "City Views", aus der die Arbeit "Universal Embassy" stammt, untersucht den städtischen Raum in Form einer Foto-Text-Serie, die mit MigrantInnen in europäischen Städten entwickelt wird.

In afrikanischen Städten ist die post-/koloniale europäische Prägung nach wie vor omnipräsent und somit Teil dortiger Wirklichkeit, die uns lediglich bruchstückhaft und äußerst selektiv medial vermittelt wird. Christine Meisner setzt sich in ihrer Arbeit "Wirklichkeit ohne Gewähr" in Form von Zeichnungen, Videos und Texten mit den Darstellungsmöglichkeiten einer urbanen afrikanischen Realität auseinander, die mit der Einschreibung europäischer Stereotypen in die Architektur und im Prozess des Aufzeichnens mit den Konventionen des eigenen, europäischen Blicks konfrontiert ist. Aus zahlreichen Interviews mit KünstlerInnen und Kulturschaffenden, die in Johannesburg lebten, bevor sie ins Ausland gingen, fügt the trinity session (Stephen Hobbs / Marcus Neustetter / Kathryn Smith) in einer Collage aus Graphiken und Texten ein vielschichtiges Bild der Stadt zusammen, die sich seit dem Ende der Apartheid in einem extremen, teilweise brutalen Umbruchprozeß befindet.

Die Perspektive der "Welt in der Stadt" nimmt die dokumentarische Filmreihe ES Express ein: Micz Flor, Merle Kröger und Philip Scheffner brachten innerhalb des ErsatzStadt-Projekts der Volksbühne internationale KulturproduzentInnen, StadtforscherInnen und politische AktivistInnen mit VertreterInnen lokaler Gruppen und Initiativen zusammen, die spezifische Berlin-Touren für ihre Gäste entwickelten. Diese waren der Anlass, über städtischen Alltag an konkreten Stadtphänomenen vergleichend zu diskutieren.

Das "real,-mapping" - Projekt mit Matze Schmidt und Sebastian Stegner wird die in der Ausstellung verhandelten Themen aufgreifen. Die Inhalte sowie deren Verflechtungen werden kartographisch als "real maps" umgesetzt und im Internet sowie in der NGBK präsentiert.

Zur Ausstellung erscheint in der Reihe ‹metroZones› ein Katalog, herausgegeben von der NGBK und der AG Learning from*. Weitere Titel der Reihe ‹metroZones› im b_books Verlag, Berlin.

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Learning from*
Städte von Welt, Phantasmen der Zivilgesellschaft, informelle Organisation

Arbeiten und Vorträge von Martin Kaltwasser / Folke Köbberling, Orhan Esen, Shilpa Gupta, Jochen Becker, Korpys / Löffler, John Duncan, Michael Zinganel, Christine Meisner, trinity session (Stephen Hobbs / Marcus Neustetter / Kathryn Smith), Merle Kröger, Philip Scheffner, Minze Tummescheit, Margareth Otti, Orhan Esen, Stefan Thimmel, Ulrich Brandt, Akinbode Akinbiyi, Christine Meisner, Hüsnü Yegenoglu, Matze Schmidt, Sebastian Stegner

Arbeitsgruppe Learning from*:
Jochen Becker, Claudia Burbaum, Martin Kaltwasser, Folke Köbberling, Stephan Lanz, Katja Reichard und John Duncan, Orhan Esen, Micz Flor/ Merle Kröger/ Philip Scheffner, Shilpa Gupta, Andree Korpys/ Markus Löffler, Martin Krenn, Christine Meisner, Margareth Otti, Ismail Sarigöl, Dierk Schmidt, Matze Schmidt/ Sebastian Stegner,
the trinity session  (Stephen Hobbs/ Marcus Neustetter/ Kathryn Smith), Minze Tummescheit, Michael Zinganel