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LEÓN FERRARI. TOASTED ANGELS, SOUNDS OF STEEL
Nov 23—Feb 3
Opening Friday, Nov 22, 6—10pm

„The only thing I ask of art is that it helps me to invent visual and critical signs that let me condemn more efficiently the barbarism of the West.“ León Ferrari, 1965

Das Weiße Haus ist besiedelt von Regenwürmern. Sie kriechen durchs Oval Office, in die privaten Gemächer, hängen von dem Fahnenmast auf dem Dach, schmieren ihren Schleim auf die amerikanische Flagge. Eklig. Sweet. Das Video Casa Blanca von 2005 ist der Auftakt unserer Ausstellung. Wird hier ein stolzes Symbol geschändet? Eine Ikone beschmiert? Was hatte León Ferrari im Sinn? Blasphemie?

Ferrari tat, was er konnte. Was er nicht konnte, tat er nicht. Das klingt banaler, als es ist. Denn was Ferrari tat, war eng verbunden mit den politischen Entwicklungen seit den 1950er Jahren, für die er zum je gegebenen Zeitpunkt seine Sprache fand, mit den Mitteln, die er hatte. Eine Sprache – mehrere Sprachen –, die vom Privaten ins Öffentliche drangen, um von Krieg und Diktatur, von Drangsalierung, und von Freiheit zu erzählen. Ferraris künstlerische Laufbahn begann 1955, im ersten Jahr des Vietnamkriegs. Sechs Dekaden lang zeichnete er fortan die Geschichte der westlichen Zivilisation als eine Geschichte der globalisierten institutionellen Gewalt nach. Als er 2013 in seiner Heimatstadt Buenos Aires im Alter von 93 Jahren starb, war León Ferrari längst zu einer der großen internationalen Stimmen des lateinamerikanischen Kontinents geworden.

KOW zeigt einen Blick in sein einflussreiches Werk, das in Deutschland noch immer zu wenig bekannt ist. Schnell fällt auf, wie der Argentinier sein Hühnchen mit der katholischen Kirche rupft. Seine berühmteste und sicher kontroverseste Arbeit, La Civilización Occidental y Cristiana von 1965, zeigt eine Jesusfigur aus bemaltem Holz, gekreuzigt an den Nachbau eines amerikanischen Kampfjets aus dem Vietnamkrieg. Das gab Ärger mit Museen, mit der Regierung, und mit dem Vatikan. Wir zeigen bislang unveröffentlichte Collagen aus den Achtzigerjahren, die an La Civilización … anschließen. Die Blätter aus dem Zyklus Relecturas de la Biblia mögen auch heute noch Gemüter erhitzen: Naziterror trifft auf katholische Propaganda, Engel beschützen amerikanische Panzer und Langstreckenraketen, in der Sixtinischen Kapelle schaut der Klerus auf den Holocaust, als sei er das Jüngste Gericht von Gottes Gnaden. Regime militärischer und religiöser Herrschaft Hand in Hand in einem Bild. Die Hölle auf Erden – geschmiedet aus Stahlrohen, Zyankali und Heiligenscheinen.

Objekte aus den späten 2000er Jahren schreiben diese antiklerikale Ikonografie der Gewalt fast komödiantisch fort. Heiligenfiguren in Küchenmixern, Toastern und Einweckgläsern nebst mit bunten Federn geschmücktem Kriegsgerät gelingt eine populäre Bildlichkeit wider den allzu menschlichen Ernst. Ferrari unterstreicht, wie sehr die Geschichte des Abendlandes, und zumal die seines Heimatlandes Argentinien, geprägt wurde durch die missionarischen Übergriffe der Kirche, durch den hegemonialen Kanon westlicher Glaubensgrundsätze, der mit Kanonenfeuer kam, mit Dollars verteidigt wurde, und der heute dringend in den Mixer gehört.

Rückblick. März 1976. Mit einem Putsch beginnt die argentinische Diktatur. Die Militärjunta übernimmt das Land, sie verschleppt, foltert und tötet bis 1983 geschätzt 30.000 Menschen, toleriert von den USA und zum Teil auch von der Bundesrepublik. Auch Ferraris Sohn verschwindet spurlos. Er sucht ihn, geht ins brasilianische Exil, nach São Paulo, wo er zunächst stiller wird, sich sammelt, um weiterzumachen. Auch die Megalopole stellt er bald als strukturelle Nötigung in eine ameisenhaften Gleichschaltung dar, findet moderne Formen für die Übergriffigkeit der modernen Stadt – und er beginnt, seine Arbeiten billig zu reproduzieren, bringt unlimitierte Editionen in Umlauf, sucht nach einer Demokratisierung der künstlerischen Produktion. Ende der Achtzigerjahre kehrt er allmählich nach Buenos Aires zurück.

Neben den ikonoklastischen und offensichtlich politischeren Arbeiten stehen in Ferraris Werk Skulpturen, Lithographien, Zeichnungen und Gemälde, die im Laufe mehrerer Jahrzehnte entstanden und eine abstraktere, konzeptuelle Formensprache sprechen. Wir zeigen zwei seiner minimalistischen Stahlplastiken, die er in den späten Siebzigerjahren entwickelte. Dutzende senkrechter Metallstangen lassen sich von Besucherinnen in Bewegung versetzen und zum Klingen bringen. Die Plastik wird zum Musikinstrument, das sich mit mehreren Händen gemeinsam spielen lässt. Frühe Zeichnungen und späte Drucke greifen diese filigranen Bewegungen auf, übersetzen sie in eine Sprache aus Linien und Knotenpunkten, die der Hypertextualität des Internetzeitalter bereits in den frühen Sechzigerjahren vorzugreifen scheinen, aber auch als konkrete Poesie den Raum zwischen Wort, Schrift und Geste vermessen. Bisweilen sind sie anarchischer Ausdruck ohne Wortsinn, dann wieder als Pamphlete lesbar.

Nicht zuletzt war Ferrari bis zu seinem Tod auch eine moralische Instanz und ein Mentor für viele Künstlerkolleginnen und -kollegen. Geht man in Buenos Aires in eine Bar oder ein alternatives Kulturzentrum, kann es sein, dass man am Tresen einer seiner Skulpturen begegnet, die er vor Jahren dort abgestellt hat. Sein künstlerisches Werk endete nicht an der Ateliertür, und sein politisches Engagement beschränkte sich nicht auf die eigene Produktion. Er gestaltete Titelbilder für gesellschaftskritische Zeitungen und Magazine, inszenierte für das Theater, schrieb Artikel, gab Interviews. Heute betreut León Ferraris Familie seinen Nachlass mit dem Ziel, den sozialen Kern seiner künstlerischen Haltung zu würdigen und für die Zukunft lebendig zu halten.

Text: Alexander Koch