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Der Impuls – Surrende Rotorblätter über uns Hubschrauber gaben den Anstoß. Sie ziehen über der Kunsthalle Mainz Erinnerungslinien des Krieges. Sie starten und landen in Wiesbaden-Erbenheim. Ihr Rattern vergegenwärtigt, dass Schwerverwundete aus den Kriegen im Irak und in Afghanistan in hiesigen US-Militärspitälern medizinisch versorgt werden. Die Kriegsversehrten der Gegenwart sind in unmittelbarer Nähe, jedoch der Öffentlichkeit entzogen – anders als die „Gueules Cassées“, die „zerschlagenen Fressen“ des Ersten Weltkrieges, die zu Propagandazwecken zur Schau gestellt wurden.

Hubschrauber werden zu Instrumenten. Der deutsche Komponist Karlheinz Stockhausen verfasst ein Quartett für vier Violinen und vier Helikopter. Das bedrohliche Surren der Rotorblätter wird mit einem Kreischen überspannter Saiten vermengt. Die Musik aktualisiert das Gedächtnis; die bildende Kunst schreibt ihm Eindrücke und Ansichten ein.

Das Thema – Der Schnitt und die Narbe Die Narben des Ersten Weltkrieges sind in dieser Ausstellung in Positionen der Gegenwartskunst versammelt. International herausragende Künstler/innen konnten dafür gewonnen werden. Nicht jedoch die politische oder militärische Geschichte des „Großen Krieges“ steht im Zentrum, sondern die Frage: Welche Rolle spielen das Bild, die Fotografie und Ikonografie bei der Verarbeitung von Verletzung, Trauma und Erinnerung?

Die Kuratoren Thomas D. Trummer konnte den österreichischen Biennale-Teilnehmer Markus Schinwald als Ko-Kurator gewinnen. Schinwald ist als Künstler mit einer Serie von Portraits (2002) vertreten. Es sind Lithografien des 19. Jahrhunderts, die bearbeitet wurden. Die Abgebildeten zeigen körperliche Gebrechen und Fehlstellen. Sie tragen Sehhilfen, Bandagen oder Prothesen.

Die Wunde – „Kriegskrüppel“ und „entartete“ Kunst Die Idee der Wunde und des gewaltsamen Risses sind in gegenwärtigen Bildern verarbeitet. Im Ersten Weltkrieg wurden Gesichter verletzt, Körper und Landschaften verstümmelt. In der Dada-Bewegung finden sich die Bruchlinien in Collagen und in den sarkastischen Auftritten. Otto Dix zeigt die Verstümmelten in einigen mitreißenden Bildern. Eines – die »Kriegskrüppel« von 1920 – wurde als „entartet“ gebrandmarkt und zerstört. Yael Bartana, israelische Künstlerin, zugleich Repräsentantin Polens bei der vorletzten Biennale, zeigt mit »Entartete Kunst lebt« (2010) einen Film, in dem sie die Invaliden des Otto Dix animiert hat. Die Blinden, Versehrten und Gehunfähigen schließen sich zu einer Parade, später zu einer Massenbewegung zusammen.

Der Spiegel – Das Selbstbildnis ist die schlimmste Bestrafung Zur offiziellen Vertragsunterzeichnung im Schloss Versailles am 28. Juni 1919 nehmen fünf französische Kriegsveteranen im Spiegelsaal Aufstellung. Ihre Gesichter sind von Granatsplittern zerfurcht und entstellt. Die Versehrten stehen hier als am Leben gehaltene Kriegsdenkmäler, die sich in den barocken Spiegeln erbarmungslos vervielfältigen. Der Anblick der Männer bringt Ministerpräsident Clemenceau zum Weinen. Auch die deutschen Delegierten müssen an diesem „Mahnmal“ vorbeidefilieren. Keiner von ihnen wird je ein Wort über diese Inszenierung der Kriegsgräuel verlieren. In den Lazaretten waren Spiegel untersagt. Das Selbstbildnis ist die schlimmste Bestrafung. Die Ausstellung zeigt die historische Postkarte dieser »Délégation des mutilés français«. Außerdem sind Abgüsse und Büsten des österreichischen Frontarztes Julian Zilz zu sehen. Zilz war Kieferchirurg und operierte ab 1915 rund 3.000 Soldaten an der Ostfront. Seine Moulagen sind Zeugnisse der Gräuel, zugleich Versuche p lastischer Bildschöpfungen mit dem Ziel, als anatomische Lehrmittel zu dienen. Auch Sigmund Freud wird mehrfach am Kiefer operiert. Freud ist Raucher und leidet an Zungen- und Rachenkrebs.

Die Fotografie – Glaubwürdigkeit und Referenz Die so genannten „Kriegszermalmten“ – die Gueules Cassées – schockieren durch die große Glaubwürdigkeit des Mediums Fotografie. Der Erste Weltkrieg kennt viele Aufnahmen, jedoch nicht aus dem Kriegsgeschehen selbst, sondern nur aus dem Davor und Danach. Fotografische Dokumente sind Ausgangspunkt vieler Bearbeitungen und Reflexionen. Die britische Künstlerin Tacita Dean beschäftigt sich in ihrer Serie von Fotogravuren mit der düsteren Ästhetik der Katastrophendarstellung. In großformatige Bilder aus »The Russian Ending« (2001) fügt sie Notizen ein, die sich wie Anweisungen für die Schlussszenen eines Filmes lesen lassen. Dean bezieht sich auf die Praxis der Stummfilmzeit, zwei Schlussvarianten zu drehen, ein Happy End für das amerikanische, ein melancholisches Ende für das russische Publikum. Der Hamburger Künstler Peter Piller arbeitet ebenfalls mit Archivmaterial. Er reproduziert historische Postkarten von Blindgängern im Ersten Weltkrieg (»Blindgänger-Familie«) und kombini ert Fotos von Schlachtfeldern mit sich auftürmenden Meereswogen (»Immer noch Sturm«). Auch die französische Künstlerin Agnès Geoffray beschäftigt sich mit historischem Material. In »Incidental Gestures« (2011/12) manipuliert sie dieses und zeigt surreale Gesten und Erscheinungen. Auch eine „Gueule Cassée“ ist Bestandteil dieser unbehaglichen Serie. Schließlich konnte der südafrikanische Zeichner und Theatermacher William Kentridge für die Ausstellung gewonnen werden. In »Zeno Writing« (2002) wird die Geschichte einer literarischen Figur von Italo Svevo vor dem Hintergrund der Wirren 1914 erzählt. Kentridges Filme bestehen aus abgelichteten Kohlezeichnungen. Dazu sind animierte Bilder von Schattenfiguren zu sehen und Found-Footage aus Filmarchiven.

Das Dunkle – Leere führt zu Sprachlosigkeit Wade Guyton zeigt ein abstraktes Bild in monochromem Schwarz, »Untitled« (2008). Zwischen zwei monumentalen Flächen bleibt eine vieldeutige Fuge, eine Narbe im Gestaltlosen. Leere und Abwesenheit führen zu Sprachlosigkeit. Die Kolumbianerin Doris Salcedo zeigt einige Bilder aus ihrer Serie »Atrabiliarios« (1996) (Die Schwermütigen). Es sind schwachkontrastige Abdrucke von Frauenschuhen. Die Motive sind Tierhaut gebannt und mit chirurgischen Nähten auf die Wand befestigt. Als dunstige, unklare Erscheinungen werden sie wiedergegeben.

Der Raum – verhängt und zerschnitten Anne Schneider näht Jutesäcke zu großen Stoffplanen zusammen. Sie werden auf Böden gelegt, über Skulpturen gestülpt oder als Vorhang gebraucht. Ihre Installation ist vor Ort entwickelt. In der ersten Halle findet sich ein monumentaler Vorhang. Der Raum selbst wird verhängt und zerschnitten. Alle Räume der Kunsthalle Mainz werden durch diese stofflichen Eingriffe gedämpft und verdunkelt. Der rauhe, grobe Naturstoff kommt als Notbehelf zum Einsatz. Der Mainzer Künstler Thomas Hombach zeigt wiederverwertete Gegenstände aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Patronen, Gasmasken und anderes Gerät werden aus Not zu Alltagsgegenständen umgearbeitet.

Die Ausstellung zeigt zusätzliches Informationsmaterial. In Vitrinen befinden sich Publikationen von Pat Barker, Ernst Friedrich, Pierre Lemaître, Peter Sloterdijk, Susan Sontag und anderen, daneben bietet ein Film von Astrid Schult Einblicke in die Lebenssituation der in Rheinland-Pfalz stationierten US-Soldaten.

Die Ausstellung begleitet ein umfangreiches Rahmenprogramm, das in Zusammenarbeit mit dem Institut français Mainz, dem Historischen Institut und dem Institut für Kunstgeschichte und Musikwissenschaft der Johannes Gutenberg Universität Mainz sowie der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz entwickelt wurde.

Als zusätzliche Ausstellung sind Fotografien des kanadischen Rockmusikers und Fotografen Bryan Adams in den Turmgeschoßen der Kunsthalle Mainz zu sehen. Adams fotografiert britische Kriegsversehrte. Die Veteranen erscheinen in großformatigen Abzügen vor weißem, raumlosem Hintergrund. Es sind nüchtern-präzise Bilder mit einer eindringlichen politischen Botschaft.