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Eröffnung: 23.09., 19 Uhr

Lili Reynaud-Dewar hat in den vergangenen Jahren ein komplexes Werk entwickelt, das beständig um die Begriffe der kulturellen, sozialen und auch emotionalen Identität kreist, wobei sie immer wieder auf verschiedene künstlerische und gesellschaftliche Freiheitsbewegungen und Subkulturen des 20. Jahrhunderts zurückgreift. Sie bricht ganz bewusst mit Konventionen und Traditionen, um diese zu untersuchen und einen Denkraum zu erschaffen, in dem die BetrachterInnen sich ihr eigenes Bild machen können und müssen.

In ihrer ersten großen Einzelausstellung im Kunstverein in Hamburg verknüpft sie Science-Fiction mit Rapmusik sowie Emanzipations- und Kolonialismusdiskursen in einer Installation, die gleichsam den Ausstellungsraum füllt und seine Grenzen erweitert. Das Kernstück der Ausstellung bildet eine großformatige Videoarbeit, die das Vor und Während einer Performance in Memphis, Tennessee, zeigt. Auf einer muschelförmigen Betonbühne werden Auszüge aus einem sozialistisch-feministischen Manifest rezitiert, während vier lokale Stand-up-KomikerInnen dazu improvisieren. Dieses Stimmengewirr wird zusätzlich von einem Noise-Musiker untermalt.

Reynaud-Dewar wählte den Ort der Performance aufgrund seiner besonders vielfältigen und kontroversen Geschichte. Die Stadt am Mississippi-Delta an der Grenze zwischen dem wohlhabenden Mittleren Westen und den ärmeren Südstaaten war Zentrum des amerikanischen Sklavenhandels und des Civil Rights Movement. Letzteres fand 1968 einen Höhepunkt im Streik der mehrheitlich schwarzen Müllabfuhr, der sich durch das Attentat auf Martin Luther King, Jr. zuspitzte, nachdem dieser sich zuvor aktiv an den Protesten beteiligt hatte. Memphis ist auch eine Legende der US-amerikanischen Musikgeschichte; der breiten Mehrheit als Stadt des Blues und der letzten Ruhestätte Elvis Presleys bekannt und heute vitales Zentrum der Rapkultur.

Reynaud-Dewar nutzt diesen spezifischen historischen und sozio-kulturellen Hintergrund, um gemeinsam mit den vier lokalen KomikerInnen die Appropriation eines Kultobjekts zu verhandeln. Zentrales Element der Performance, des darauf basierenden Films und der Ausstellung sind sogenannte Grills – aus Edelmetallen gefertigter Zahnschmuck, ähnlich einer Zahnspange. Diese übernehmen in der schwarzen Musikkultur, insbesondere im Rap und Hip Hop fast reliquienartige Funktionen und sind ebenso ein Statussymbol. Durch ihre Vereinnahmung der Grills provoziert Reynaud-Dewar als weiße, europäische Künstlerin ganz bewusst heikle Fragen nach kultureller Aneignung, Einschreibung und Übertragung sowie nach der Legitimation solcher Akte. Ein inhaltliches Bindeglied der Arbeit stellt Donna Haraways Essay A Cyborg Manifesto von 1985 dar. Das feministische Manifest nutzt, wenn auch teils ironisch, den Cyborg als Metapher für die Auflösung der konservativen Trennung zwischen Mensch, Maschine und Natur, um stattdessen einen chimärenartigen Zustand der Verschmelzung zu propagieren, in dem normative Grenzen wie Klasse, Rasse und Geschlecht verworfen werden. Auszüge aus Haraways Text sind Bestandteil der Performance und nicht zuletzt rufen die Grills selbst Erinnerungen an kybernetische Körpermodifikation wach. Darüber hinaus kristallisieren sich in den Gesprächen zwischen der Künstlerin und den PerformerInnen immer wieder Diskussionen über die Ursachen der Ausgrenzung von Minderheiten heraus.

Die Ausstellung im Kunstverein in Hamburg vereint neben dem Video auch Requisiten der Performance. Im Raum und in überdimensionalen Grills, die als Abfallbehälter fungieren, liegt zudem in Memphis gesammelter Müll als Reminiszenz an den Streik verteilt. Einen inhaltlichen Rahmen für die vielfältigen Bezugspunkte schaffen großformatige Texttafeln, auf denen Zitate aus dem Cyborg Manifesto stehen. Reynaud-Dewar transformiert mit der Installation nicht nur Raum und Zeit der Performance, sondern löst gleichsam auch die Grills als Kultgegenstand noch weiter aus ihrem ursprünglichen Kontext und verortet sie in einem neuen. In einer Zeit widerstreitender Kräfte zwischen weltbürgerlicher Utopie und wieder aufkeimenden nationalstaatlichen Ideologien stellt die Künstlerin mit ihrer Ausstellung in Hamburg hochaktuelle Fragen nach der Formulierung und Übersetzung von kultureller Identität, ihrer Bedingungen, ihrer Folgen und ihrer Grenzen.

Lili Reynaud-Dewar (*1975 in La Rochelle, Frankreich; lebt und arbeitet in Paris und Grenoble) absolvierte ihren Master of Fine Arts an der Glasgow School of Art. Einzelausstellungen und Projekte Reynaud-Dewars wurden u.a. im New Museum, New York, dem Studio Museum, Harlem, im Centre Pompidou, Paris, im Museum of Contemporary Art, Chicago, in der Kunsthalle Basel, der Generali Foundation sowie im 21er Haus, Belvedere in Wien und im Index in Stockholm gezeigt. 2015 war sie auf der von Okwui Enwezor kuratierten Biennale di Venezia vertreten. Zusammen mit Dorothée Dupuis und Valérie Chartrain ist sie Mitbegründerin und Redakteurin des Magazins Petunia für feministische Kunst und Unterhaltung.

Das Projekt ist eine Koproduktion mit dem Museion in Bozen sowie de Vleeshal in Middelburg und wird von einer Publikation begleitet.

Die Ausstellung wurde mit Beteiligung Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg und des Bureau des arts plastiques des Institut français und des französischen Ministeriums für Kultur und Kommunikation und mit freundlicher Unterstützung der NORD/LB Kulturstiftung sowie der Mara und Holger Cassens-Stiftung realisiert. Die Dreharbeiten in Memphis und die Performance wurden von Redshoes, Paris, mithilfe der Hermès Foundation im Rahmen des New-Settings-Program und dem Patronage-Komitee der Fondation Nationale des Arts Graphiques et Plastiques produziert.