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Eröffnung: Samstag, 23. Juni 2007, 18 - 21 Uhr

DOPPELT BETÖRT Klassisch / Modern

Portrait, Stillleben und Landschaft – diese Begriffe stehen für klassische Malerei. Für Liu Ye hingegen ist ihre Anwendung Mittel der Selbstbestimmung. Die Einzelausstellung bei Johnen + Schöttle vereint unter dem Titel „Infatuation“ (Betörung/Verzückung) elf seiner jüngsten Arbeiten. Vier bauen sein Thema des weiblichen Porträts aus, drei zeigen Stillleben und drei Landschaften. Zusammen mit einem (Comic-Hasen) „Miffy“, der als Selbstportrait dient – „I Am A Painter“ – bilden die gezeigten Arbeiten eine Zusammenschau „klassischer“ Themen.

Dieser Sinn für das Klassische wird von Liu Ye jedoch nicht einfach auf seine Bildthemen appliziert, er liefert ihm vielmehr eine Basis, die jedem Bild ein inneres Korrektiv verleiht. Konkret gesprochen handelt es sich um eine gezielte Auflehnung gegen eine allzu kartoonhafte Bildsprache. In der Figur des Mädchens der „Eleven Cherries“ behält Liu Ye zwar einen typisch kartoonhaften Ausdruck in der Darstellung bei, der dunkle Hintergrund erinnert allerdings an Jan van Eyck oder andere Vertreter Altniederländischer Malerei. Offensichtlich wird hier etwas in einen exotischen, einen antiquarischen Kontext gesetzt und so in Frage gestellt.

Wahrer Modernismus besteht aus einer Mischung von zeitgenössischen und klassischen Elementen. Im Frankreich des neunzehnten Jahrhunderts kritisierte der Verfasser dieses Credos Charles Baudelaire die Nostalgiker seiner Zeit mit den Worten: „Sie versenken sich selbst über die Maßen in klassische Zeiten, so dass sie sich selbst um die Privilegien bringen, die ihre eigene Zeit für sie bereit hält.“ Das heutige China hingegen bedarf, selbst aus modernistischer Sicht, Kritik aus der anderen Richtung. Zahlreiche Künstler verlieren sich in aktuellen Moden und berauben sich damit selbst Kenntnissen und Fähigkeiten, die ihre ureigenen sind und aus klassischer Zeit stammen. Indem sie modische Themen aufgreifen und auf akute Situationen anwenden, bedienen sie sich eines ständig erneuerbaren Repertoires westlicher Kunstformen. Doch diese Werke sind dazu bestimmt, das kurzlebige Schicksal wurzelloser, auf dem Teich treibender Algen zu teilen. In der Tat hat eine kartoonhafte Bildsprache beim Eintritt in das neue Jahrhundert eine Welle der Begeisterung ausgelöst unter den jungen chinesischen Malern, grelle Farben, exzessive Formen und entleerte Hintergründe sind rasch zu einer Art kollektivem Stil der Gegenwart gereift. Diese Situation hat dazu geführt, dass die Position Liu Yes als Erfinder einer eigenständigen Bildsprache verunklärt worden ist und sein individueller Stil als einem stereotypen Schema angehörend missverstanden wird. Liu Ye ist beständig auf der Suche nach einer individuellen Form, die über die aktuelle Realität hinausgeht, wobei aktuelle Realität hier nicht allein eine autoritäre politische Realität bedeutet: sie beinhaltet alles, was eine individuelle Persönlichkeit betrifft. Angesichts des Zustands, in dem chinesische Gegenwartskunst sich befindet, besteht seine Antwort aus einer Introspektion mit dem Ziel, Symptome freizulegen, die seine Kunst mit populären Trends gemeinsam haben könnte. Als Ergebnis verspürt Liu Ye das Bedürfnis auf einen klassischen Pfad zurückzukehren, was in seinem Fall bedeutet, seinen Stil der Zartheit und Luzidität in einen beruhigten Bildraum zu versetzen, der es ihm erlaubt seine stilistischen Kriterien aufs Neue einzuschätzen.

Der japanische Autor Tanizaki Junichiro (1886 – 1965) hat mit seinem Buch Zum Lob des Schattens eine bestechende Untersuchung der Östlichen Ästhetik vorgelegt. In ihr postuliert er, dass das sogenannte Geheimnis des Ostens „höchstwahrscheinlich auf der formlosen Stille beruht, die an dunklen Orten herrscht. Als wir jung waren, saßen wir häufig im Wohnzimmer oder im Arbeitszimmer und richteten unsere Augen auf die Tiefe eines Alkovens, in den kein Licht gelangte. Wir empfanden Erregung durch einen undefinierbaren Schrecken, und wir fragten uns nach dem Grund für dieses geheimnisvolle Ereignis. Ihm auf den Grund gehend entdeckten wir die magische Kraft der Schatten (....). In solch einem Raum ist man unfähig, sich das Verrinnen der Zeit zu vergegenwärtigen; die Jahre schienen zu vergehen, bis wir aus diesem Raum wieder hervortraten und die Gebrechlichkeit des Alters verspürten. Es gab das beängstigende Empfinden, das eine lange Zeit verstrichen war.“ Doch solche Schatten tauchen nicht allein in unserem Wohnzimmer auf; sie sind in Dingen enthalten, von denen wir fasziniert sind. Zum Beispiel „lieben Chinesen Jade. Dieser wertvolle Stein nimmt nach Jahren des Kontakts mit Luft eine subtile Trübung an. Angesichts der starken Faszination, die Jade speziell auf Chinesen ausübt, kann ich nur davon ausgehen, dass unsere Vorliebe für solche Dinge eine Eigenschaft typisch östlicher Prägung ist. Dieser wertvolle Stein ist nicht von intensiver Farbigkeit wie ein Rubin oder Smaragd, noch verfügt er über die Strahlkraft eines Diamanten. Was macht ihn also derart anziehend? Wenn Chinesen seine stumpfe Oberfläche betrachten, dann wird bewusst, dass sie es ist, die ihn zum wertvollsten Stein Chinas macht. Und von noch größerer Bedeutung ist, dass in seiner wolkigen Trübe die Ewigkeit der chinesischen Zivilisation verborgen zu liegen scheint. Somit ist es verständlich, und sogar zu rühmen, dass Chinesen fasziniert sind von seinem Schimmer und seiner Dichte (....). Es ist keineswegs so, dass uns glänzende Dinge missfallen, verglichen mit ihnen bevorzugen wir jedoch das Gedämpfte und Verschattete. Ganz gleich, ob natürlich oder von Menschen bearbeitet, ein solch wertvoller Stein hat einen stumpfen Glanz, der den Abdruck verronnener Zeit enthält. Der Abdruck der Zeit ist eigentlich eine Verfärbung, verursacht durch die Berührung menschlicher Hände. Die ‚polierte Anmutung’, die ‚Patina’ ist die Folge jahrlanger Benutzung, während derer Absonderungen der menschlichen Haut in die Oberfläche eindringen. Dies ist es, was die Leute den Abdruck der Zeit nennen.“

Obwohl ohne Zweifel eine wunderbare Betrachtung, ist Tanizakis Position gegenüber dem Westen vielleicht doch etwas überbetont. Walter Benjamins Abhandlung über die ‚Aura’, entwickelt aus seinen Gedanken zur frühen Fotografie, besticht meiner Ansicht nach durch einen integrativeren Ansatz: „Der langsame Kampf des Lichts beim Auftauchen aus den Schatten (....) birgt eine solche Schönheit und Flüchtigkeit“ – auch dies spricht von einer uneingeschränkten Qualität der Zeit und dem einzigartigen Sein einer Epoche.

Liu Yes Beachtung des Klassische erfolgt mit Blick auf diese Auffassung des ‚Schattens’. Der unmittelbarste Ausdruck dieses Bewusstseins findet statt im subtilen Gebrauch von Grautönen. In seinen früheren Bildern bevorzugte er Primärfarben, fasste den Hintergrund in einer einzigen Farbe. In jüngeren Arbeiten neigt er dazu, seine Figuren vor einem dämmrigen Hintergrund zu platzieren, er hüllt sie in eine Schattenhaftigkeit, die sie hohl und düster aussehen lässt. Von einer solchen Farbgebung dominiert erfolgt eine ästhetische Entfernung seiner Figuren aus der Realität – seien es die Nabokov’schen Lolitas, die er so gerne malt, seien es Bücher oder Schachteln aus seinem Besitz. Jede gleicht einem Erbstück, poliert durch jahrelangen Gebrauch, oder einem Jadestein, verdunkelt und schimmernd durch den Abrieb der Erinnerung und Fantasie: sie verströmen einen Hauch von Nostalgie und zeugen von dekadenter Kennerschaft. Wenn wir diese Werke betrachten, scheinen wir uns in einem Raum zu befinden, dessen melancholischer Besitzer diese ‚kleine Welt’ nur für sich allein eingerichtet hat. Dieser Ort ist erfüllt von der Atmosphäre vergangener Zeiten und trägt die Farben der Erinnerung. Gleichzeitig herrscht eine Stimmung des Unheimlichen und des Surrealen.

Fülle / Leere

Hier begegnen wir einem beachtenswerten Phänomen: in den letzten Jahren gewann Gerhard Richters Behandlung der malerischen Oberfläche in China zunehmend an Einfluss. Aus meiner Sicht liegt ein wesentlicher Grund hierfür in der Art und Weise, in der Richters Bildsprache – vermeintlich – mit dem Begriff der ‚Leere’ in der chinesischen Malerei korrespondiert. Obwohl Liu Yes Malerei erfüllt ist von den abstrakten Werten Mondrians und Malewitschs, hat er nie seine Bindung an eine abbildende Darstellungsweise aufgegeben. Meist gibt es in seiner Arbeit eine Verschmelzung von darstellender, physischer Konkretheit mit definitiver, reiner Abstraktion. Er nutzt figurative Formen, um seinem Gefühl für das Geisterhafte Ausdruck zu verleihen, ganz in der östlichen Tradition der gegenseitigen Bedingtheit von Fülle und Leere. Was die malerische Oberfläche seiner Arbeiten zeigt, ist wirkliche Form; und gleichzeitig ist es leere Form. Es ist ein Blick der Sehnsucht, und gleichzeitig ein Sicht auf das Unwirkliche.

In zwei seiner Stillleben sind Bücher beziehungsweise Schachteln aufeinander gestapelt. Sie zeigen lediglich die äußere Hülle, verbergen jedoch ihr Inneres. Was enthalten die Schachteln? Wovon handeln die Bücher? Es gibt keine Antwort auf unsere Fragen. In einem der Portraits sind dem Mädchen die Augen mit einem schwarzen Tuch verbunden. Spielt sie ein Spiel oder ist sie Teil einer masochistischen Szene? Die Augen der „Lady Teacher“ sind verborgen hinter einem Paar großer Brillengläser, ihre straffe Haltung ist gebieterisch. Sie erscheint als die Personifikation schulmeisterlicher Strenge. Es ist offensichtlich, dass keinerlei Raum vorhanden ist für individuellen Austausch, Gefühle eingeschlossen. Ebenso wie bei dem Mädchen in „Eleven Cherries“, das die derzeit so beliebten blauen Kontaktlinsen trägt als Abschirmung zwischen ihrem Inneren und der äußeren Welt.

Diese Arbeiten sind eine Betrachtung des Verhältnisses zwischen Gesehenem und Ungesehenem, zwischen Fülle und Leere. Die Details sind sorgfältig ausgeführt, wie Leitern, die in verborgenen Bereiche führen, wie Passagen zwischen Fülle und Leere. Je mehr wir über Inhalt und Bedeutung des Dargestellten spekulieren, desto deutlicher wird uns dessen Unwirklichkeit. Insofern könnte man sagen, dass die Formen als solche Orte für Fantasie und Erinnerung sind; gleichzeitig schafft ihr verschatteter Hintergrund das Gefühl eines Zeitraums, in dem sich Erinnerung und Fantasie entfalten, um sich dann jedoch zu verflüchtigen, ohne Spuren zu hinterlassen. Alle hier angesprochenen Komponenten vereinen sich auf ideale Weise in dem Landschaftsbild „Composition with Trees and Bamboo“. Bäume und Bambus stehen aufgereiht vor einer niedrigen Gartenmauer. Blätter und Boden sind mit Schnee gepudert, was ihnen viel von ihrer physischen Konkretheit nimmt, ihr Umriss vor dem dämmrigen Hintergrund lässt sie schemenhaft wirken. Doch trotz dieser ergreifenden Darstellung des Irrealen hat der Maler die Welt keinesfalls aufgegeben. Inmitten der entleerten Kälte ist mit der an einen Baumstamm gelehnten Schaufel ein Stück menschliche Wärme präsent, die Silhouetten der Bäume und des Bambus drängen sich zusammen wie die Schneemänner im Märchen und ein sanfter Lichtschein fällt auf den verschneiten Grund. All dies trägt zu der berührenden Wahrnehmung des Daseins innerhalb des Gartens bei. In der Begrifflichkeit von Bildmotiven gesprochen vereint dieses Werk die Anmutung einer Landschaftsmalerei aus der Yuan-Dynastie mit der Abstraktion westlicher Prägung. Seine visuellen Zeichen sind arrangiert wie Musiknoten, sie erzeugen eine Melodie, die dem Rhythmus des Universums antwortet.

Es bleibt noch zu erwähnen, dass der Bambus von anmutiger Form ist, er die Leere in jedem einzelnen Abschnitt enthält. Seit jeher ist diese Pflanze in unseren Höfen und Gärten heimisch, und auch heute noch wächst sie vor Liu Yes Atelierfenster. Als eines der klassischen Symbole traditioneller chinesischer Malerei verkörpert er die Dualität von Fülle und Leere in harmonischer Einheit. Nun, da er Eingang in die Malerei Liu Yes gefunden hat, bezeugt er die Faszination, die auf Liu Ye ausgeht von der Fülle und von der Leere.

Zhu Zhu, Juni 2007