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Ludwig Schönherr
Bilderinflation

05.03. –01.05. 2022

Mitte der 1970er Jahre begann der Künstler Ludwig Schönherr (1935-2016), die Bilderflut seiner Zeit zu erforschen, die freilich nicht von den sozialen Medien, sondern vom Fernseher bestimmt wurde. Er kontaktierte Fernsehsender in den USA und in Deutschland und zog wissenschaftliche Analysen zurate, um Informationen über die Auswirkungen des Fernsehens auf die Zuschauer*innen und ihre Möglichkeiten der Bildung oder "Verblödung" einzuholen. Im Exposé zu seiner umfangreichen Fotoserie Bilderinflation (1978) stellt Schönherr fest: "Jeder Deutsche sitzt täglich 4 Stunden und 25 Minuten vor dem Fernseher, jeder Amerikaner 5 Stunden und 16 Minuten, jeder Japaner über 7 Stunden." Wie viele Bilder haben diese Fernsehzuschauer:innen pro Tag verarbeitet? Wie kann man einzelne Bilder in der ständigen Flut der Sendungen unterscheiden? Schönherr konzipierte ein geniales und ehrgeiziges Projekt der "strukturellen Fotografie". Ausgehend von musikalischen Strukturen fertigte er zwölf Partituren an, die als Grundlage für eine Fotoserie dienten, für die er ein Jahr lang jeden Tag über etwa viereinhalb Stunden einen Kleinbildfilm von Fernsehbildern aufnahm. Der Partitur folgenden wurden die Fotos so aufgenommen, dass sie in variablen Konstellationen mit Weißkadern, spezifische geometrische Strukturen im Raster eines Kontaktbogens aufbauten. Das Projekt führte er im Jahr 1978 365 Tage lang durch, wobei er seine Zeit zwischen Hamburg und New York City aufteilte. Obwohl Schönherr dieses Projekt nie in Form einer Ausstellung realisierte und zu Lebzeiten nur kleine Ausschnitte des Werks zeigte, hinterließ er zahlreiche Notizen, Diagramme und Konzeptpapiere, die den Produktionsprozess dokumentieren und seine Intentionen erkennen lassen. Die Organisator*innen dieser Ausstellung haben sich intensiv mit diesen Materialien auseinandergesetzt und Schönherrs Projekt für ein neues Installationsformat interpretiert. Neben den 365 Fotografien von Bilderinflation, die nach Schönherrs Vorgaben neu gedruckt wurden, präsentiert diese erste institutionelle Einzelausstellung des Künstlers auch Archivmaterial, darunter Partituren, visuelle Drehbücher und Konzeptpapiere, die die Forschungs- und Entwicklungsphase des Werks dokumentieren, sowie verwandte Arbeiten des Künstlers zum Thema Fernsehen. Diese Materialien werden in einen Dialog mit der Bedeutung von Farbe und farbigem Licht in Schönherrs Werken gestellt. Die Ausstellung verbindet darüber hinaus Zitate des Künstlers mit Kommentaren von Marc Siegel zu seinem Werk. In einer durch den scheinbar endlosen Strom digitaler Online-Bilder gekennzeichneten Zeit, ist Schönherrs Bilderinflation ein faszinierendes Beispiel einer künstlerischen Strategie, um ephemeren Bildern Struktur, Ordnung und Form zu verleihen, und sie als Objekte der Analyse und der ästhetischen Erfahrung zu gewinnen. Über die ästhetische Innovation des Künstlers hinaus, liefert Bilderinflation ein einzigartiges medien- und kunsthistorisches Archiv der Zeit.

Ludwig Schönherr, auch bekannt als Peter Schönherr und Ludwig Winterhalter, wurde als Günther Helmut Peter Schönherr am 30. Mai 1935 in Nordhausen, Thüringen, geboren. In den 1960er Jahren begann Schönherr sich mit dem Medium der Fotografie und später mit dem Super-8-Filmemachen zu beschäftigen. 1967 kaufte er seinen ersten Schwarz-Weiß-Fernseher, der ihn zu einer verstärkten intellektuellen und künstlerischen Beschäftigung mit Fernsehbildern inspirierte. In den nächsten Jahren entstanden Dutzende von Super-8-Stummfilmen von Fernsehbildern, die von Farbblitzen unterbrochen wurden und die er „Elektronikfilme” oder „TV-Art” nannte. In den frühen 1970er Jahren begann Schönherr mit der Arbeit an Fotoprojekten mit Bildern, die vom Fernsehen aufgenommen wurden. In begleitenden schriftlichen Texten und Notizen theoretisierte er einige seiner Arbeiten als „Strukturelle Fotografie“ und „Absolute Fotografie“ und betrachtete den sorgfältig strukturierten Kontaktbogen als sein Endprodukt. Der Höhepunkt seiner künstlerischen und theoretischen Auseinandersetzung mit dem Fernsehen ist sicherlich die Jahresserie Bilderinflation (1978). Während seines Lebens hielt sich Schönherr mit der Präsentation seiner Arbeiten in der Öffentlichkeit zurück. In den 1990er und 2000er Jahren wandte er sich der Computer-Bearbeitungssoftware zu, um neue digitale Bilder zu schaffen und seine früheren Fotografien neu zu gestalten. Ludwig Schönherr starb am 30. September 2016 in Berlin.

Organisiert von Jonathan Berger, Susanne Sachsse und Marc Siegel, in Zusammenarbeit mit ZOOM – Ludwig Schönherr Labor (Berlin).