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20.07.2020 - 23.08.2020

MARY-AUDREY RAMIREZ
INTO A GRAVEYARD
FROM ANYWHERE
20. Juni bis 23. August 2020

Überlebensgroß genähte, gebändigte wilde Kreaturen belagern die installativen Inszenierungen von Mary-Audrey Ramirez (*1990 in Luxemburg). Gemeinsam mit textilen Zeichnungen und Objekten erzeugen sie eine fantastische Welt voller popkultureller Zitate: Filme wie Star Wars (seit 1977), Serien wie Stranger Things (seit 2016) und Videospiele wie Tomb Raider (1996-2018) beeinflussen als Teil des kollektiven Bildergedächtnisses mehr oder minder subtil unsere Sicht auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowie auf Gesellschaftsstrukturen und Geschlechterverhältnisse.

Als ebensolches Aggregat unterschiedlichster Inspirations-quellen bewaffnet uns INTO A GRAVEYARD FROM ANYWHERE gleich zu Beginn mit einer übergroßen Labrys, die uns imaginär durch ein zugleich irdisches sowie außerirdisches Geschehen begleitet: Eine Ansammlung aus der Erde unter ihnen erwachsener, wie hypnotisiert auf einen Bildschirm starrender Kreaturen. Ein Bildschirm im Mobiltelefonformat, der durch einen computergenerierten, unendlich wirbelnden Strudel in die Tiefen einer digitalen Bildwelt zieht. Ein geflüchtetes, wie mit schwarzem Latex übergossenes Geschöpf, das wie erstarrt im Raum steht. Ein mit gesenktem Kopf zugleich unterwürfiges, aber auch angriffslustiges fremdartiges Wesen, das den Weg versperrt. Eine schwarze, schleimähnliche Spur, die von dessen Schwanz zu einem an einem Netz aus Stahlketten fixierten Organismus führt. Absturz, Landung, archäologische Ausgrabungsstätte? Eine Schar rosafarbener, zyklopischer Geschöpfe, die jenes tentakelartige Gebilde forsch erklimmen, die Spur auf dem Boden inspizieren, sich aufgeregt verstreuen. Und eine mit farbigen Fäden durchstochene Leinwand, auf der ungestüme Ameisenwesen einer vor einem strudelartigen Portal wachenden weiblichen Figur blutige Körperteile darbieten.

Mary-Audrey Ramirez schafft mit ihrer eigens für den Dortmunder Kunstverein entstandenen Installation eine Momentaufnahme einer unwirklichen und rätselhaften Szenerie, die uns trotz oder gerade wegen ihrer Fülle an Fremdartigkeiten fasziniert: Die Kreaturen sind wild und gebändigt, devot und dominant, unheimlich und niedlich. Die glatten, weichen Stoffe scheinen wie hartes Plastik oder Wachs zu schmelzen und die spiegelnden, holografischen Flächen seltsam digital – so als würde man aus einem schrägen Winkel auf einen Bildschirm blicken und sich das Bild vor unseren Augen immer wieder verändern. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion zerfließen. Haben wir unsere Gedanken noch unter Kontrolle? Alles scheint in Metamorphose, im Übergang von einem Zustand zum folgenden, von einer Welt in die andere, von einer Deutung zur nächsten.

So entstehen auch Ramirez‘ textile Zeichnungen, von denen auch eine in der Ausstellung zu sehen ist, in Anlehnung an die von den Surrealisten zum Ausdruck des Unbewussten angewandte Methode der écriture automatique (automatisches Schreiben) sowie an die Décalcomanie (Abklatschtechnik) Max Ernsts. Bei ihrer Fertigung wechselt die Künstlerin von der aktiven, gestaltenden in die passive, ausführende Rolle und überlässt der Quiltmaschine das Nähen bzw. das Zeichnen. Mit farbigen Fäden ausgerüstet, rattert sie in Geradstich über ein Stoffstück, das von Ramirez intuitiv bewegt wird. Es entsteht eine Skizze aus gestisch anmutenden Linien, ein Wirrwarr, aus dem Muster, Objekte sowie Figuren auftauchen und aus denen anschließend, von Ramirez akzentuiert und erweitert, traumähnliche Bilder voller Symbole und narrativer Ebenen erwachen.

Mary-Audrey Ramirez gibt Geschichten Gestalt. Im digitalen Raum geboren bzw. von ihm inspiriert, fragen ihre Arbeiten danach, wie sich Virtuelles in Physisches übersetzen lässt und offenbaren das Scheitern beim Transfer der künstlerischen Medien: Das perfekte, glatte, auf Bildschirmen zum Leben Erweckte, schleicht sich als eindeutig Handgemachtes in unsere Gegenwart. Die immer mehr miteinander vermischten Sphären beflügeln sich, weisen sich aber auch immer wieder gegenseitig in die Schranken. So veranschaulichen Ramirez‘ Installationen und die sie belagernden Kreaturen, die digitalen Parallelwelten als Stellvertreter sowie Surrogate unserer Sehnsüchte, Bedürfnisse und Träume, aber auch Ängste und Befürchtungen. Sie können als Menetekel der Auswirkungen der technischen Revolution auf die conditio humana gelesen werden, zeugen aber stets gleichwohl von der Faszination, Lust und Freude am Eskapismus. An eben jenem inspirierenden Eskapismus, den nur die Kunst – ganz gleich in welchem Medium – zu schaffen im Stande ist.

Kuratiert von Linda Schröer

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Zur Ausstellung wurde von pirate_sheep ein „Face-Filter“ kreiert, 
der auf der Instagram-Seite des Dortmunder Kunstvereins abrufbar ist:

https://www.instagram.com/dortmunderkunstverein