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Im Juli des Jahres 2000 fiel der Startschuss für die Vorbereitungen des Ausstellungsprojektes "Mit Sinnen", dessen Initiator, das Westfälische Museumsamt (WMA), es sich zum Ziel gesetzt hatte, ein Ausstellungsvorhaben zu konzipieren und durchzuführen, das sich speziell an den Belangen blinder und sehbehinderter Museumsbesucherinnen und -besucher orientiert. Im Vorfeld der konzeptionellen Überlegungen trat neben eine umfangreiche Literaturrecherche eine direkte Kontaktaufnahme zu blindenspezifischen Bibliotheken und Institutionen, um zu eruieren in welchem Rahmen und in welchem Umfang bisher Kunstausstellungen für ein blindes Publikum realisiert wurden. Daneben fanden Gespräche mit Vertretern aus den Bereichen der Museumspädagogik und des Ausstellungswesens statt. Dabei zeigte sich, dass im Rahmen von kulturhistorischen Ausstellungskonzepten1 oder Ansätzen zu einer ikonographischen Dokumentation2 bisher vor allem Sachthemenkomplexe illustriert wurden. Diese Konzepte konzentrie rten sich einerseits auf das Evozieren ästhetischer Empfindungen und andererseits auf das gegenständliche und motivische Erkennen. Der Wunsch, darüber hinaus eine inhaltliche Auseinandersetzung als intellektuelle Leistung aus der Exponatbetrachtung durch die Vielfalt der unterschiedlichsten Sinneseindrücke anzuregen, wurde allenthalben als Desiderat definiert. Auf diesen Anspruch hin untersucht, ergab die Auswertung der zusammengebrachten Literatur, bestehend aus Ausstellungskatalogen und themenbezogenen Beiträgen zur wissenschaftlichen Forschungsdiskussion, folgendes Bild. Die Kunstrezeption durch Blinde ist in den achtziger und frühen neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts in den Mittelpunkt eines wissenschaftlichen Interesses gerückt. Die Diskussion über die theoretischen Grundlagen und die pragmatische Umsetzung wird insbesondere in zwei Wissenschaftszweigen geführt. Hier ist einmal die Wahrnehmungspsychologie zu nennen, deren Ergebnisse auf Grundlagenforschungen der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts fußen. Daneben tritt die Pädagogik, in zwei Richtungen untergliedert, zum einen in den Bereich der Kunstpädagogik und zum anderen den der Museumspädagogik. Zudem wird im Feld der kulturtheoretischen Überlegungen vor allem auf den Begriff der Ästhetik, jedoch auch auf das Grundrecht auf freien Zugang zur Kunst für behinderte Menschen reflektiert. In der wahrnehmungspsychologischen Forschungsdiskussion lassen sich folgende Hauptakzente nachvollziehen: Ein Hauptaspekt in der Forschung ist die Frage, ob eine haptokinetische Erfahrung ein ästhetisches Erleben hervorrufen kann, wobei in der Literatur differenziert wird zwischen formell struktureller Lesbarkeit und inhaltlicher Deutbarkeit3. Bei der haptischen Wahrnehmung treten an den Rezeptor "Haut" eine Vielzahl von Sinneseindrücken gleichzeitig heran, so dass die differenzierten Tastqualitäten zur Komplexität des Wahrnehmungsbildes beitragen. Ein Spezifikum ist die Möglichkeit einer Unterscheidung der Wahrnehmungsweise in zwei Komponenten, zum einen den objektiven Aspekt, der auf Form und Beschaffenheit der Objekte zielt, und zum anderen den subjektiven Aspekt, dessen Focus auf der Eigenwahrnehmung liegt4. Révész geht von der Grundthese aus, dass ästhetische Wahrnehmung auf haptischem Wege nicht erreicht werden kann5. Problematisch ist dabei, dass er Maßstäbe, die man an die visuelle Wahrnehmung anlegt, unreflektiert auf die haptische überträgt. Man darf hierbei jedoch nicht aus dem Auge verlieren, dass zwischen den beiden Gruppen, den Geburtsblinden und den Späterblindeten, ein erheblicher Unterschied in der Fähigkeit zu visualisieren besteht. Diese Grundthese Révész' wird in der modernen Forschung mehrheitlich abgelehnt, mit Ausnahme der Ästhetik des dialektischen Materialismus, in der noch heute die Vermittlung von künstlerischen Inhalten durch die "niederen" Sinne (Geschmack, Geruch und Tastsinn) gänzlich negiert wird. Man geht vielmehr in der modernen Forschung davon aus, dass haptische Wahrnehmung, bezogen auf ästhetisches Erleben, nicht nur an intellektuelles Wissen, sondern auch an Erfahrungswerte gekoppelt ist. Dieses berührt die Frage nach dem ästhetischen Maßstab, wobei zwei Komponenten gleichberechtigt nebeneinander stehen: Zum einen gilt ein Kanon von persönlichen Werten, nach denen man individuell ein Kunstwerk beurteilt, zum anderen existiert ein vor dem Hintergrund der Kunstgeschichte entwickelter Rahmen von Klassifizierungswerten, welcher auf einen gesellschaftlichen Konsens zielt - ein sich aus den Berührungspunkten zwischen den Einzelmaßstäben und tradierten Parametern fügender Leitkanon, der den einzelnen Beurteilungskriterien Orientierung bietet, so dass sie sowohl ihm folgen als auch sich gegen ihn stellen können. Sowohl bei Révész als auch in der jüngeren Forschung wird die Auffassung vertreten, dass zwar eine intentionale Herangehensweise bei der Orientierung in der alltäglichen Umwelt der rezeptiv-kontemplativen vorzuziehen sei, dass aber bei der Betrachtung eines Kunstwerks eine Umgewichtung hin zum rezeptiv-kontemplativen Ansatz erfolgen solle, so dass die Wahrnehmung einen freieren Assoziationsprozess anstoßen könne, da eine rein intentionale Herangehensweise an ein Kunstwerk dessen Eigenart gegenüber dem realexistenten Gegenstand nicht heraustreten lasse. Emotionale Zustände können in bestimmten Formen ihren Ausdruck finden, Formen, die sowohl in der visuellen als auch in der haptischen Wahrnehmung intuitiv konnotiert werden.

Dietmar Schade

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Mit Sinnen
Zeitgenössische Kunst mit allen Sinnen erleben. Eine Ausstellung für Menschen mit und ohne Behinderung

Künstler:
Victor Bonato, Rilo Chmielorz, Mic Enneper, Mark Formanek, Carsten Gliese, Rolf Julius, Rita Kanne, Thomas Klegin, Andreas Köpnick, Christina Kubisch, Helmut Lemke, Ekkehard Neumann, Stefan Pietryga, Mark Stolte, Timm Ulrichs, Peter Vogel, Martin Willing.

Kuratoren:
Dietmar Schade