press release only in german

Anlässlich des 100. Geburtstags des jüdisch-litauischen Fotografen Moï Wer (1904-1995) zeigt die Pinakothek der Moderne erstmals in der Geschichte der Fotografie »Ci-contre« (franz. für: gegenüber, nebenstehend). Hierbei handelt es sich um einen Buchentwurf mit 110 Originalfotografien aus dem Jahr 1931, der bis heute nicht veröffentlicht wurde. Die in Paris entstandenen Aufnahmen zeigen auf den ersten Blick beiläufig wirkende, alltägliche Motive des städtischen Lebens wie anonyme Passanten, Straßenschluchten oder Fensterauslagen. Doch »Ci-contre» ist nicht als fotografische Dokumentation der französischen Metropole zu verstehen, sondern will durch ungewöhnliche Aufnahmen und unkonventionelle Bildzusammenstellungen eine völlig neue Sicht auf die urbane Lebenswelt vorführen. Moï Wer bediente sich dabei des gesamten Formenrepertoires der avantgardistischen Fotografie seiner Zeit, vor allem aber setzte er das Sandwich-Verfahren ein: Durch das Kopieren von bis zu 5 Negativen übereinander erzeugte er Bilder, in denen sich die visuelle Eindrücke überlappen und kein axiales Zentrum mehr auszumachen ist. »Ci-contre« ist ein visueller Leitfaden über die vielfältigen Möglichkeiten der modernen Fotografie, konventionelle Wahrnehmungsformen zu durchbrechen und die Alltagswelt neu zu entdecken.

Der im litauischen Wilna aufgewachsene Moïse Werebeischyk, wie Moï Wer bis 1931 hieß, kam nach einem Studium der Malerei 1927 ans Dessauer Bauhaus, wo er den Vorkurs von Josef Albers absolvierte und Kurse bei Paul Klee, Wassily Kandinsky und Hinnerk Scheper besuchte. Hier kam er, angeregt und unterstützt durch den ungarischen Konstruktivisten Laszlo Moholy-Nagy, mit der modernen Fotografie in Berührung. Mit der Übersiedlung nach Paris im Herbst 1928 intensivierte Moï Wer seine fotografische Ausbildung und erwarb eine Leica, damals das unverzichtbare Handwerkszeug jedes modernen Fotografen. 1931 erschien sein erster Bildband »Ein Ghetto im Osten - Wilna«, in dem er ein modernes dynamisches Layout mit der Darstellung des orthodoxen jüdischen Lebens seiner Heimatstadt verband. Im gleichen Jahr wurde auch sein bahnbrechendes Buch »Paris« publiziert, versehen mit einer Einleitung von Fernand Léger. »Paris« ist ein Kaleidoskop der modernen Metropole und ihrer vielfältigen Erscheinungsformen. »Paris«, nur in einer Auflage von 1000 Exemplaren erschienen, wurde zu einem überragenden Erfolg und zählt heute zu den wichtigsten Monographien der Fotogeschichte.

»Trunken von den Möglichkeiten der Kamera«, so der Künstler rückblickend, entwickelte Moï Wer noch im gleichen Jahr den Buchentwurf »Ci-contre«. Hier verzichtete er ganz auf einen thematischen Leitfaden und konzentrierte sich auf die Darstellung der unterschiedlichsten fotografischen Ausdrucksmöglichkeiten. Die insgesamt 110 Fotografien montierte er auf 42 Doppelseiten und schickte die druckfertige Fassung an den in München lebenden Kunsthistoriker Franz Roh. Roh war mit seiner Veröffentlichung von »foto-auge« und der 1930 begonnenen Buchreihe »Fotothek« zum wichtigsten Protagonisten der modernen Fotografie avanciert. Von »Ci-contre« begeistert bemühte er sich um einen Verlag. Doch in Folge der nationalsozialistischen Machtergreifung konnte »Ci-contre« nicht mehr publiziert werden. Moï Wer emigrierte 1934 nach Palästina; Franz Roh lebte, mit Berufsverbot belegt, bis 1945 zurückgezogen in seiner Münchner Wohnung.

Mit der Übernahme eines Teils des Nachlasses von Franz Roh ging »Ci-contre« 1968 in die Sammlung Wilde über. Nach langwieriger Recherche spürten die Sammler Moï Wer, der nun den Namen Moshé Raviv, trug, in der israelischen Künstlerkolonie Safed auf. Eine intensive Zusammenarbeit nahm ihren Anfang mit dem Ziel, das Werk von Moï Wer dem Vergessen zu entreißen.

Anlässlich der Ausstellung wird 73 Jahre nach seiner Entstehung das Buch »Ci-contre« von den Sammlern Ann und Jürgen Wilde in Anlehnung an die Originalfassung realisiert, ergänzt durch einen einleitenden Essay des Berliner Philosophen Hannes Böhringer. Die bibliophile Ausgabe ist in einer deutschen, englischen und französischen Fassung erhältlich.

Ci-contre, 110 Photos de Moï Wer Herausgegeben von Ann und Jürgen Wilde; mit Texten von Hannes Böhringer, Inka Graeve Ingelmann und Ann und Jürgen Wilde. Ca. 90 Seiten im Quadtone-Verfahren

Pressetext

only in german

Moï Wer "Ci-contre, 1931"
Kuratorin: Kuratorin: Inka Graeve Ingelmann in Zusammenarbeit mit Ann und Jürgen Wilde