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Am Anfang sind alle Kind. Dieser Lebensabschnitt, der dem Erwachsenen später nur noch in wenigen Erinnerungen zugänglich ist, wird im Rückblick zum rätselhaften Ort seines Schicksals, zum Mythos. Die Sicht des Kindes auf die Welt ist für den Erwachsenen prinzipiell unzugänglich, aber wahrscheinlich gerade deshalb so faszinierend. Kindheit wird von jedem Menschen individuell erlebt und erinnert, es existiert keine universell gültige Definition. Kindheit wird vorwiegend durch soziale und kulturelle Faktoren bestimmt und von jedem Menschen individuell erlebt und erinnert. Dies ist mit ein Grund, warum sich unter dem Begriff Kindheit vielfältige, zum Teil gegensätzliche Assoziationen versammeln, wie zum Beispiel: Unschuld, Reinheit und Paradies, aber auch Angst, Hilflosigkeit und Versagen. Das Motiv des Kindes und der Kindheit als mythischer und utopischer Ort dient in der Kunst als Feld der Selbstvergewisserung.

Die Ausstellung „Mythos Kindheit“ versucht weder den Begriff Kindheit unter historischen Gesichtspunkten zu untersuchen, noch sozialkritische Fragen aufzugreifen, sondern beschäftigt sich mit der Art und Weise, wie das Thema Kindheit in der Gegenwartskunst aufgegriffen und reflektieren wird. Die von überregionalen und internationalen Künstlerinnen und Künstlern in unterschiedlichen Medien gezeigten Werke, begreifen sich als Möglichkeit einer Annäherung und Vorstellung von Kindheit.

In beiden Videobeiträgen sowohl von Justyna Koeke wie auch der Gemeinschaftsproduktion von Lauri Astala, Elina und Hanna Brotherus sind die Protagonistinnen selbst Kinder. Sie nehmen den Betrachter quasi an die Hand und entführen ihn in ihre Welt, lassen ihn teilhaben an ihren Gedanken und Gefühlen. Mit leichter Wehmut beobachten wir diese uns abhanden gekommene ungehemmte Offenheit und spielerischen Freude beider Mädchen. An keiner Stelle verfallen sie in eine Pose oder schlüpfen in eine Rolle; sie sind ganz bei sich, während sie uns die Augen öffnen und wir gebannt ihren Geschichten lauschen.

Im Unterschied zu diesen reich bebilderten und erzählerisch angelegten Videos konzentriert sich in Iris Sara Schillers kurzem Videoloop in schwarz weiß alles auf ein nonverbales, allein auf Mimik und Geräusche reduziertes Gespräch zwischen einem Vater und seinen zwei Söhnen. Mit verzerrtem Gesicht gibt der Vater laut knurrende animalische Laute von sich. Angst und Schrecken zeichnet sich auf den Gesichtern der Kinder ab, der Dialog schwankt zwischen bedrohlichem Ernst und spielerischer Leichtigkeit bis er am Ende in ein befreiendes Lachen der Kinder übergeht.

In Yves Trémorins Serie POUPIG werden alle Klischees vom süßen Babybild radikal verweigert. Ungeschönt und unsentimental ist der Blick des Fotografen, der den monotonen Alltag mit einem Kleinkind als nüchterne Bestandsaufnahme eines stets sich wiederholenden Kreislaufs, von Stillen, Trösten, Nase putzen, Windeln wechseln, Baden und in den Schlaf wiegen etc. darstellt.

Veronika Veits Installation verweist auf einen zentralen Ort ihrer Kindheit. Es ist das verkleinerte Imitat einer Einbauküche aus den 1970er Jahren. Auf der Arbeitsfläche sitzt ein Kind, daneben ein umgekehrter Hocker, der Boden wird gerade gewischt. Hier ist der Ort wo während dem Kochen, Braten, Backen, Spülen und Saubermachen, erzählt und verhandelt, über Wichtiges und Unwichtiges gestritten wird, hier finden ganz nebenbei, zwischen Mutter und Tochter kleine belanglose aber auch entscheidende Gespräche statt.

Auf ähnliche Weise werden die auf den ersten Blick einfachen und unauffälligen, der Alltagswelt entnommenen Objekte von Hans-Peter Feldmann zum Anstoß unzähliger Kindheitserinnerungen: sei es das unvergessene Muster eines Teppichs, das als Unterlage für stundenlange Spiele mit Spielzeugtieren diente, der sorgfältig um einen Fischkörper gelegte Verband, der Erinnerungen an die erste Begegnung mit einem toten Tier bezeugt, die ungeheurere Spannung, die ein geschlossener roter Vorhangs auslösen kann, bis man endlich in die phantastische Welt der Ungeheuer, Könige, Diebe und Feen hineingezogen wird.

Fabrice Langlades filigrane Wandobjekte entführen den Betrachter in eine trügerische Idylle. Erst bei genauerem Betrachten der schneeweißen, an die Wand gepinnten Figürchen wird deren Doppelbödigkeit sichtbar, wenn heiter anmutende stilisierte Blumen und Fabelwesen ganz unvermittelt auf bewaffnete Soldaten und Panzerfahrzeuge treffen.

Natascha Stellmach geht in der Nachbildung eines Kinderzimmers einem zentralen Ort der Kindheit nach und greift auf frühe, in ihrem Leben gemachte Erfahrungen zurück. Wie um sich ihrer eigenen Erinnerung zu versichern, verbindet sie reale Objekte und gefilmte Sequenzen aus ihrer Kindheit mit neu hinzugefügten Elementen. In einem nur spärlich beleuchteten Raum überschneiden sich Realität und Fiktion, verschiedene Zeitebenen greifen ineinander und spüren dem komplexen Phänomen der Erinnerung nach.

Ein großer, geheimnisvoller Wald in unterschiedlichen Jahreszeiten bildet in der Werkgruppe „Emerentia“ von Ursula Kraft die Kulisse einer märchenhaften Landschaft. An unterschiedlichen Stellen taucht ein zartes, elfenhaftes Mädchen mutterseelenallein, in ein tiefrotes Samtcape gehüllt, ganz unvermittelt immer wieder. Der Wald birgt Gefahr und Schutz, er ist der Ort der Ruhe und der potentiellen Gewalt. Die Stimmung ist ambivalent, die Bilder bleiben in der Schwebe, verliert das Mädchen seine Unschuld oder wird es durch eine wunderbare Verzauberung gerettet? In andere Rollen schlüpfen und sich Verkleiden, ist ein Kinderspiel das jeder kennt.

In Sabine Dehnels 10-teiliger Porträtserie versinken Kindergesichter unter breitkrempigen Hüten, Beine und Arme werden in Seidenstrümpfe gehüllt, kleine Füße stecken in viel zu großen, hochhackigen Schuhen, Büstenhalter hängen an den zierlichen Körpern und dienen einzig dazu die große, unerreichbar erscheinende Welt der Erwachsenen zu imitieren.

Während sich hier im unbeschwerten Spiel die Lust am Verkleiden zeigt, verkehrt sich in Sergey Bratkovs Fotografien das Spiel in nackten Ernst. Hier haben die Eltern ihre Kinder für die Bewerbung bei Kindermodelagenturen geschminkt und zurechtgemacht. Der laszive Gesichtsausdruck der Mädchen, die inszenierte Pose, die Art der Kleidung, alles verweist auf eine Erotisierung des kindlichen Körpers.

Das aus 54 Gemälden sich zusammensetzende Tableau von Hans Witschi zeigt in düsteren grün braun Tönen Porträts von Jugendlichen, die alle ein gemeinsames Schicksal verbindet. Sie waren in den 1970 Jahren in der Schweiz zusammen in einem Heim untergebracht. An ihnen haftet das Stigma der Krankheit, der körperlichen oder geistigen Behinderung. Auf eindringliche Weise befasst sich Hans Witschi mit einem bis heute tabuisierten Thema. Wie gehen wir mit Behinderung und Krankheit um? Der medizinische Fortschritt hat neue Methoden der Früherkennung entwickelt. Es sind wir, die sich für oder gegen ein krankes Kind entscheiden, die selektionieren und dazu beitragen, Bilder makelloser, idealer Kind zu kreieren.

Zur Ausstellung erscheint ein umfangreicher Katalog im Kerber Verlag.

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Mythos Kindheit
Kuratoren: Barbara Auer, Andréa Holzherr

Künstler: Sergej Bratkow, Elina Brotherus & Hanna Brotherus & Lauri Astala, Sabine Dehnel, Hans-Peter Feldmann, Justyna Koeke, Ursula Kraft, Fabrice Langlade, Iris Sara Schiller, Natascha Stellmach, Yves Tremorin, Veronika Veit, Hans Witschi