press release only in german

"Eine Handlung nenne ich eine Folge von Veränderungen, die zusammen ein Ganzes ausmachen. Diese Einheit des Ganzen beruht auf der Übereinstimmung aller Teile zu einem Endzweck." Gotthold Ephraim Lessing in "Abhandlung über die Fabel", 1759

In Auseinandersetzung mit mythologischen, ikonographischen und psychischen Elementen zerlegt Norbert Brunner Systemvorstellungen. Aus den daraus entstehenden Strukturen entwickelt er neue Beziehungssysteme. So dienen Brunner Themen, etwa aus unterschiedlichen europäischen, germanischen, griechischen oder südtirolerischen Sagenbereichen, als Angelpunkte, von denen aus er konzeptuelle Untersuchungen anstellt.

In der Ausstellung "Vor Laokoon" werden über mehrere Ebenen entwicklungsgeschichtliche, politische, soziokulturelle und formalästhetische Probleme thematisiert. So ist es einmal die Frage nach dem Begriff der Handlung als Versuch von Erzählbarkeit, Folgewirkung und Ergebnis. Lessing versteht diesen Begriff als Zusammensetzung und Bezogenheit einzelner Parameter aufeinander mit dem Ziel der Einheit. Betrachtet man andererseits einen Mäander, so erscheint die Zusammensetzung der einzelnen Bewegungsstrukturen als kontinuierliche Wiederholung, die, denkt man sich den Mäander in die Länge gezogen, eine Handlungslinie ergibt. Brunner kreuzt nun die Lessingsche mit der Mäandertheorie, ausgehend davon, dass jede Handlung ein Muster und gleichzeitig Veränderung in sich trägt. Eine Folge von Veränderung wäre die Zerlegung. So greift Brunner auf einen der ältesten Mythen, derjenigen des Laokoon, zurück. Um Laokoon zu verstehen, muss er zerlegt, in Teile gelöst werden.

Der Mythos bzw. die Tragödie des Laokoon und seiner Söhne, den und die Vergil im 2. Buch der Aeneis beschreibt, hat seit seiner Entstehungszeit über die Auffindung der antiken Skulptur im Jahr 1506 bis zur heutigen Zeit seine Gültigkeit. Geschaffen von den drei rhodischen Bildhauern Athandoros, Hagesandros und Polydoros im 9. vorchristlichen Jahrhundert, beschäftigt sie nicht nur Plinius, Winckelmann, Lessing, Herder, Schiller oder Goethe, auch Künstler seit der Renaissance setzen sich mit der Laokoongruppe immer wieder auseinander.

Die Faszination des Laokoon ist vielschichtig: Ausgehend von der Hochzeit des Peleus und der Thetis, zu der die Göttin der Zwietracht nicht eingeladen wurde und aus Verbitterung darüber einen goldenen Apfel aus dem Garten der Hesperiden in die Gästerunde für die schönste der Geladenen wirft, entsteht der Streit darüber, wer denn die Schönste sei. So wird Paris aufgefordert, zwischen Hera, Athene und Aphrodite zu wählen. Seine Wahl fällt auf Aphrodite, die ihm im Gegenzug Helena zur Frau verspricht. Da diese aber bereits mit dem griechischen Fürst Menelaos verheiratet ist, entführt Paris sie nach Troja und missbraucht damit das Gastrecht der Griechen, die dies zum Anlass nehmen, einen Krieg gegen Troja zu beginnen. Nach 10jähriger erfolgloser Belagerung der Stadt durch die Griechen wird das hölzerne Pferd als Kriegslist eingesetzt, wovor Laokoon warnt: "Ich fürchte die Danaer, auch wenn sie schenken." Ausgehend davon existieren zwei Versionen davon, warum Laokoon sterben musste: Einmal sei es Athene gewesen, die während einer Opferung des Priesters ihm die Schlangen über das Meer gesandt hätte, um ihn zu töten, in der zweiten Version habe Apollon, dessen Priester Laokoon war, ihm verboten, zu heiraten. Weil er dieses Verbot ignoriert und sich stattdessen auf dem Altar mit dessen Gattin vergnügt hätte, habe ihn Apollon töten lassen.

Ausgehend von dieser Mythologie sind es drei Ebenen, die dessen Faszination begründen: Einmal ist es die die Warnung der Trojaner durch den Priester Laokoon, dem ebenso wenig Glauben geschenkt wird wie Kassandra. Bei Vergil, dem Hofdichter des Augustus, wird der Tod des Laokoon als von den Göttern gewolltes Gründungsopfer Roms gesehen. Damit geht es zum Zweiten um den Gründungsmythos Roms, wohin Aeneas laut Vergil mit seinem Vater Anchises und seinem Sohn Julus aus Troja flieht und damit als Urgründer des römischen Volkes angesehen wird. Zum Dritten geht es um die antike Skulptur des Laokoon, deren unmittelbares Vorbild im Giganten Alkyoneus am Pergamonaltar zu finden ist, wo dieser von Athene an den Haaren gezogen wird. Bezeichnend ist, dass dessen linker Fuß den Erdboden berührt, was die These unterstreicht, dass Laokoon ein Zitat des Alkyoneus darstellt und gleichzeitig auf seine Kraft verweist. Die Erde berührend ist er, trotz des Schlangenbisses, noch am Leben. Es ist auch die Darstellung der Hybris der Giganten, sich gegen den Ratschluss der Götter aufzulehnen. Beschrieben von Plinius, von Winckelmann rezipiert als Höhepunkt der antiken Kunst und thematisiert vor allem in der deutschen Klassik, wohnt auch der Skulptur, deren Ursprünge noch nicht bewiesen werden konnten, ein bis heute fortdauernder Mythos inne.

Für Norbert Brunner geht es, auch in Reflexion der Tatsache, dass die Römer in Laokoon das Sinnbild des Ursprungs ihres Volkes sehen, in dieser Darstellung um die "konstruierte Zusammenziehung von Identität". Brunner interessiert weniger die "edle Einfalt und stille Größe", wie Winckelmann das Ertragen des Elends bei Laokoon beschreibt, als vielmehr die Untersuchung von Strukturen politisch-ästhetischer Mechanismen. Die Aufgabenstellung hat sich geändert, es geht nicht mehr um den erzeugten Mythos Laokoon, den Brunner unangetastet lässt, sondern es geht um die Auswirkungen dieses Mythos, der per se nicht existent ist, allerdings davor warnt, soziale Strukturen zu zerstören oder die Achtung vor Menschlichkeit zu verlieren. In der Tradition des französischen Existentialismus und der Filme der "nouvelle vague" lässt Brunner uns wissen, dass es kein Geheimnis gibt, indem er es nicht antastet, sondern Laokoon in seiner begriffsbeladenen Vielschichtigkeit und seiner Widersprüchlichkeit seit der Antike stehen lässt. Der Inhalt dieses Mythos wird also nicht mitgeteilt oder erzählt, sondern durch Entitäten dargestellt.

Von einem anderen, dem semiotischen, Aspekt beleuchtet Brunner die Bedeutung der Absurdität von Wahrheit und Schicksalhaftigkeit, deren Schwere und Belastetheit aufgebrochen wird, indem er uns mit Laokoon direkt konfrontiert. In präzise gearbeiteten Buntstiftzeichnungen verweist er einerseits auf Propagandasprache, sein Zeichenstil erinnert an die Luftpinselmalerei sowjetischer Prpoagandaplakate, und enthebt Laokoon andererseits der unnahbaren Verehrung. Er löst ihn aus seiner Belastetheit, um ihn bewusst in einen banalen, alltäglichen Kontext zu führen. Die Schlangen, die die an bläulichen Marmor erinnernde Personengruppe umschlingt, werden mit Strumpfmustern einer Tänzerin belegt, die aber auch als Landkarte oder camouflierte Armeemusterung gelesen werden können. In dieser Veränderung wird Laokoon als Apparat erkennbar, als Konstrukt, das nicht nur propagandistischen Zwecken dient, sondern auch körperlichen Perfektionismus und daraus resultierende Maschinenähnlichkeit erkennen lässt. Ihm gegenüber befindet sich, völlig unprätentiös, eine junge Mutter mit ihrem Kind. Als reduzierteste Form sozialer Struktur und in ihrer Bedeutung als Succus des Staates, sitzen beide in Alltagsbekleidung in einem öffentlichen Raum als zeitgemäße Warnung vor der Zerstörung dieser Strukturen. Schließlich wandeln sich die beiden in der dritten Zeichnung zu einem performativen Paar. So singt die Mutter im Outfit von Courtney Love, ihre Armhaltung ähnelt derjenigen des Laokoon, in der Hand hält sie ein Mikrophon anstatt einer Schlange, die sie abwehren müsste. So schließt sich der Handlungsbogen, obwohl es keine Handlung gibt, entschlüsselt sich ein Mythos, den es eigentlich nicht gibt.

Elisabeth Fiedler