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Die Baukunst Galerie eröffnet am Freitag, dem 3. November 2006 von 19 bis 22 Uhr eine zweite Ausstellung der Werke von Noritoshi Hirakawa. Unter dem Titel „Nothing incomprehensible“ werden Künstlerfilme, Diaprojektionen und Fotografien präsentiert, die einen umfangreichen Einblick in das breite Spektrum des in New York lebenden Künstlers bieten. Mit dieser Ausstellung schließen wir an die Performance „Vier zwei Eins“ von Hirakawa an, die am 30. und 31. August in der Baukunst Galerie uraufgeführt wurde.

Die Arbeiten des 1960 in Fukuoka (J) geborenen Noritoshi Hirakawa sind bereits weltweit in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen präsentiert worden – unter anderem auf der Biennale in Venedig, in der Kunsthalle Zürich, im P.S.1 in New York, Museo Nacional De Bellas Artes in Buenos Aires, Museum of Fine Arts in Houston, Shoto Museum in Tokio, SESC in Sao Paulo (BRA), Yokohama Museum of Art sowie zuletzt im ZKM in Karlsruhe. Mittels Fotografie, Video, Tanz, Installation und Performance erforscht der Künstler Bestandteile verdrängter, sozialer Strukturen. Seine Arbeiten sind stets das Resultat ganz persönlicher, psycho-soziologischer Studien und haben fast immer eine erzählerische Komponente, die in Hirakawas früherer Tätigkeit für das Theater begründet ist. Restriktive Moralbegriffe und Tabus werden aufgezeigt und subversiv unterlaufen, um diese ins Bewusstsein des Betrachters zu rufen. Dabei ist sein Œuvre vor allem vor dem Hintergrund der Moralbegriffe und Tabus der japanischen Gesellschaft zu lesen. In dem Künstlerfilm „Vier zwei Eins“, der im Kontext der diesjährigen Performance entstandenen ist, beschäftigt sich der Künstler mit dem von der Gesellschaft tabuisierten unbewussten Verlangen zwischen Vater und Tochter. Unter der Oberfläche der alltäglichen Kommunikation entwickelt sich im Verlauf der Handlung auf einer zweiten, unbewussten Ebene ein Dialog von existentieller Bedeutung. Der innere Konflikt der Hauptdarstellerin wird dramaturgisch durch das Erscheinen ihres „spirits“ in Form einer maskierten, nackten Tänzerin inszeniert. Die Gefühle von Vater und Tochter, die ihr inszestuöses Verlangen in einem tragischen, unbewussten Schicksal aneinander bindet, gewinnen vor der klanglichen Kulisse musikalischer Improvisationen eine beklemmend, intensive Gestalt.

In der zuletzt im ZKM in Karlsruhe ausgestellten Installation „A Temptation to be a Man“ (1997) ist die Diaprojektion einer diagonal im Bild liegenden jungen Frau zu sehen, die ihren nackten Körper offensiv zur Schau stellt. Der helle Lichtspot eines auf die Projektion gerichteten Scheinwerfers verstellt den Blick auf ihr Gesicht. Erliegt der Betrachter der „Versuchung“ und unterbricht den Lichtstrahl, offenbart sich ihm das selbstbewusste, zufriedene Lächeln des Modells. Dem kulturellen Misstrauen gegenüber der Dominanz des ‚männlichen Blicks‘ setzt diese Installation die Macht weiblicher Erotik entgegen. Zugleich wird durch die Interaktion mit dem zur Schau gestellten Modell die Zensur sexuellen Verlangens an der eigenen Person erfahrbar.

In der dreiteiligen Diaprojektion „A fruitful wavers“ (2002) beschäftigt sich Hirakawa – wie in vielen der ausgestellten Fotografien – mit intimen Handlungen, die von der Gesellschaft ausschließlich im privaten, nicht aber im öffentlichen Raum geduldet werden. In drei Kurzgeschichten sieht sich der Betrachter mit vermeintlich unschuldigen Situationen konfrontiert, die sich dann unvermittelt zuspitzen und ihn an dem inneren Trieb einer fremden Person teilhaben lassen, die trotz aller Restriktionen eine intime Handlung inmitten des öffentlichen Raums vollzieht. Die Diaprojektionen konfrontieren uns mit jenen alltäglichen Momenten unserer Gedanken und Taten, die ein gesellschaftliches Tabu darstellen, uns aber dennoch vertraut sind – wenngleich wir diese nicht mit anderen Menschen teilen möchten.

In der Arbeit „The Light of Shueng Wan“ von 2006 gibt eine junge Frau auf ihrem Heimweg von der Arbeit ihrem inneren Impuls nach und beginnt zu dem Violinspiel eines jungen Musikers auf der Straße zu tanzen. Diese spontane Impulsivität erregt die Aufmerksamkeit eines vorübergehenden Mannes, der die beiden mit Trommelschlägen zu begleiten beginnt. Tanz ist auch ein Gestaltungsmittel des 1999 entstandenen Künstlerfilms „Le va et vient“ (Das Gerenne). Durch die Kombination der drei karibischen Tänze Mazurka, Zouk und Soca, die ihren Ursprung in der afrikanisch-indischen Bevölkerung der Inseln haben, problematisiert Hirakawa die Rassentrennung auf der Insel Martinique: Obgleich die farbige Bevölkerung 90 % der Gesamtbevölkerung ausmacht, bestimmt die Minderheit der weißen Kolonisten Wirtschaft, Politik und kulturelles Leben. Deutlich wird dies in den ersten und letzten Filmszenen, in denen Hirakawa dem Betrachter Einblick in ein jährliches, gesellschaftliches Ereignis gibt, an dem bis heute ausschließlich weiße Menschen teilnehmen dürfen. Während diese Gesellschaft Walzer tanzt, werden jene karibischen Tänze, die von der Mehrheit der Bevölkerung Martiniques praktiziert werden, von drei farbige Menschen auf einer Tankstelle am Rande einer Straße aufgeführt.

Mit dem Titel „Nothing incomprehensible“ stellt Noritoshi Hirakawa die Behauptung auf, dass alles verständlich und begreiflich ist. Alle menschlichen Phänomene – seien es impulsive oder intime Handlungen, unterdrückte oder hervorbrechende Triebe oder innere Bedürfnisse – betreffen jeden Einzelnen von uns. Trotzdem versuchen Menschen in Form gesellschaftlicher Restriktionen immer wieder, sich gegen einander oder bestimmte Bereiche des menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns abzugrenzen. Diese homogenisierenden Diktate der Kultur führen jedoch auf lange Sicht zu einer Verleugnung der eigenen Vielschichtigkeit persönlicher Sehnsüchte und psychischer Bedürfnisse. Indem Noritoshi Hirakawas Werke uns durch ihren Handlungsverlauf oder ihre Ästhetik verführen, nähern wir uns jenen tabuisierten Themen und finden innere Parallelen. Es ist dieser emotionale Zugang, der uns die Tür zu der Erkenntnis öffnet: „Nothing is incomprehensible“ – nichts ist unverständlich...

Pressetext

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Noritoshi Hirakawa
Nothing Incomprehensible