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PAUL SCHWER & PHILIP GRÖZINGER
‘Fractured Memories of Future Now's'

07. Mai – 19. Juni 2022
Eröffnung: Samstag, 07. Mai 2022, ab 17 bis 21 Uhr
Einführung: Prof. Dr. Stephan Berg (Director KUNSTMUSEUM BONN)

Stephan Berg (Intendant Direktor, KUNSTMUSEUM BONN)

TAUMELNDE PERSPEKTIVEN

In seiner 1886 erschienenen Analyse der Empfindungen erklärte der Physiker und Philosoph Ernst Mach das „Ich für unrettbar“ und beschrieb damit ein Subjekt, das keine stabile Identität mehr aufweist, sondern, ausgeliefert an sich ständig ändernde Sinneseindrücke permanent in einer brüchigen Zone zwischen Illusion und Realität schwebt und wie ein impressionistisches Gemälde aus einer Unzahl von instabilen Empfindungsflecken besteht. Natürlich ist es kein Zufall, dass diese Analyse an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert erfolgt, dessen wissenschaftliche (man denke nur an die Psychoanalyse) und technologischen Schübe die bisherigen Fundamente der Welt gründlich verschoben und ins Wanken gebracht haben. Ein gutes Jahrhundert später ist die Situation für das Subjekt nicht einfacher geworden. Während wir einerseits in einem erweiterten Selfie-Wahn an der Bebilderung und Optimierung unserer Ich-Erscheinung arbeiten, gehen uns andererseits die objektivierbaren Grundlagen für unsere Selbstmodulierungen immer mehr verloren.

In diesen Kontext ordnet sich auch die aktuelle Ausstellung von Philip Grözinger und Paul Schwer in der Galerie Choi & Choi ein. Fractured Memories of Future Now´s entwirft einen Parcours des Taumelns und Schwankens, des Auflösens von Gewissheiten, an deren Stelle fragile, momenthafte Verknüpfungen und dynamische, permanenten Änderungen unterworfene Konstellationen treten. Philip Grözinger, dessen Malerei sich immer wieder auch räumlich-installativ erweitert, konfrontiert uns mit kosmischen Welten, die sich, gespeist aus einem gleichermaßen von neoexpressivem Furor wie Art Brut-Einflüssen geprägten malerischen Duktus, zu komplex orchestrierten mentalen Landschaften verdichten. Angefüllt mit einem Motivvokabular aus dem popkulturellen Raum, aber auch aus der Kunstgeschichte vibrieren sie mit einem energetischen Impuls und einer intensiv-leuchtenden Farbigkeit, die nicht verdecken kann, dass hinter so viel - auf den ersten Blick - affirmativ wirkendem bonbonbuntem Farb- und Motiv-Hedonismus ein gehöriges Maß an Dunkelheit und Melancholie steckt. Wiederkehrende Elemente in dieser gleichzeitig verspielten, dystopischen und planetaren Sonderwelt sind weiße Monster, glotzende Tierfiguren, Cowboys, merkwürdige Apparaturen, die verdächtig an Junggesellenmaschinen in der Tradition von Marcel Duchamp erinnern, Münder, aus denen weitere Gestalten quellen und rote Kabel, die das wuchernde Motivinventar auf eine nicht sehr vertrauenswürdige Art und Weise miteinander verbinden.

Sein symbolisch schlüssigstes Fundament findet dieser von einem starken Horror-Vacui geprägte Kosmos im mehrfach verwendeten Bild der Achterbahn. In „Die ewige Wiederkehr (2015) zeigt sie sich als eine gigantische, wimpelgeschmückte weiß-rötliche Schleife, die auf so spinnwebdünnen Beinen ruht, dass man sich um ihre Statik ernsthaft Sorgen machen muss. Auch die kabelbewehrte Apparatur, die möglicherweise die Energieversorgung der Bahn besorgt schafft hier kein Vertrauen, zumal sich ihre Kabel-Kringel und Schleifen eher um sich selbst zu drehen scheinen. Zusammengenommen: Ein Bild einer instabilen Welt, die sich in einem permanenten rasenden Stillstand befindet. Seine surreale Qualität bezieht diese Szene nicht zuletzt aus der Tatsache, dass sich auf dieser Achterbahn, die zugleich das Endloszeichen zitiert, kein einziges Fahrzeug befindet. Da hilft auch Pac-man (Pac, 2020) nicht mehr weiter. Beschienen vom Licht einer müden, etwas in die Knie gegangenen Peitschenlaterne sieht sich dieser Veteran aus den Anfängen der Computerspiele einer Übermacht von kleinen hässlichen Monstern gegenüber, die ihn vermutlich demnächst überwältigen werden.

Paul Schwer, der sein ursprünglich rein malerisches Werk seit Anfang der 1990er konsequent in den Raum erweitert hat, geht es in all seinen Installationen nicht zuletzt um eine Auflösung eines verbindlichen Betrachterstandpunktes und um das Erlebnis einer permanenten Dynamisierung und Veränderbarkeit des Gezeigten. Seine aus Farbe, Licht, und Industriematerialien wie Neonröhren, Plexiglas, Folien und Baumaterial bestehenden begehbaren Räume reflektieren die Erfahrung des Künstlers in den Mega-Cities dieser Welt und sind insofern Chiffren einer urbanistischen Realität, die von oft disruptivem Wandel und zudem von synästhetischer Gleichzeitigkeit heterogenster Eindrücke geprägt ist. Auch in diesem Werk ist nichts stabil und alles durchdrungen von der Erfahrung des Passageren, des Wandels, des Übergangs. Das von Schwer vornehmlich verwendete transparente Plexiglas ist für den Künstler denn auch vor allem Ausgangspunkt für eine fortlaufende Verformung. Durch die Erhitzung des Materials wird der feste Kunststoff an den Rand der Verflüssigung gebracht und in verschlungene Raumkörper verwandelt, die mit ihren ausgreifenden Schwüngen und Durchblicken zugleich als malerische wie auch als plastische Gesten interpretiert werden können. Zugleich artikuliert sich in der farbigen Transparenz des Materials eine unauflösliche wechselseitige Durchdringung von Bildraum und Realraum, gewissermaßen eine Verschmelzung von Welt und Bild. Ein bestechendes Beispiel dafür stellt die innen beleuchtete, konisch verjüngte Skulptur im Eingangsbereich der Galerie dar, deren verformte farbige Platten nur lose fixiert ein Stahlgerüst umhüllen. Ihre inhaltliche Aufladung erhalten die Arbeiten Schwers häufig durch Siebdrucke. So finden sich die Kirschblüte und die Beuys ́sche Rose als historischer Verweis auf den Traum einer direkten Demokratie ebenso wie Motive von schmelzenden Gletschern oder einer vom Wind zerstörten isländischen Blockhütte. Allerdings verhindert die Überlagerung der Motive und ihre starke Pixel-Auflösung jede eindeutige Lesart. So wie dieses Werk in seinem plastischen Vokabular immer wieder die Grenzen zwischen Form und Formlosigkeit austestet, argumentiert es auch auf der inhaltlichen Ebene statt mit klaren Botschaften, eher mit Paradoxien und produktiven - Widersprüchlichkeiten.

Schwer, der Bildhauer, in dessen Werk immer der Maler erkennbar ist, der er früher ausschließlich war und zu einem gewissen Teil auch noch ist, und Grözinger, dessen Malerei immer wieder auch in den umgebenden Raum drängt, eint - bei aller formalen Unterschiedlichkeit – ein durchaus lustvolles Bekenntnis zur grundsätzlichen Instabilität unserer Wirklichkeit. Was diese Ausstellung mit all ihren zugleich spielerischen, witzigen, aber eben auch melancholischen und düsteren Aspekten insofern in aller Deutlichkeit zeigt, ist nicht nur, dass die Welt nicht mehr auf eine fundamentale Ordnung hin auszurichten ist, sondern auch, dass dieser lang gehegte Glaube in Wahrheit schon immer ein Fantasma war. Stattdessen sollten wir akzeptieren, dass unsere Realität aus einer Vielzahl sich überlagernder, einander widersprechender Perspektiven besteht, die nicht harmonisiert, sondern im Sinne einer produktiven Absurdität ausgehalten und gestaltet werden wollen.