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„Wir müssen uns nun Gegenständen zuwenden, wenn wir verstehen wollen, was das Leben in einer Großstadt Tag für Tag zusammenhält: Gegenständen, die unter dem Titel „urbaner Hintergrund“ der Verachtung anheimfallen, deren zutiefst städtischer Charakter jedoch im Allgemeinen den Schlüssel zu unserem Leben enthält. In diesen mit einer Schicht ihrer vergessenen Weisheit überzogenen Objekten finden wir all jene Bewegungen, alle Beständigkeit, alle Stabilität vor, die frühere Formen des Sozialen nicht mehr in sich schließen können – Individuen und Gesellschaft, Felder und Strukturen. Die Großstadt scheint noch bevölkerter zu sein als Babylon und stellt sich als Ort einer großen Zahl aufgeregter kleiner Wesen dar, deren Treiben in seiner Gesamtheit den komplexen Netzwerken, die bisher als flach wie ein Brett beschrieben worden sind, Höhe, Breite und Tiefe verleiht.“ (Bruno Latour und Emilie Hermant, Paris: Die unsichtbare Stadt)

Es ist verführerisch, Bruno Latours und Emilie Hermants „unsichtbare Stadt“ mit dem künstlerischen Territorium Phyllida Barlows in Verbindung zu bringen, reflektiert ihre Arbeit doch paradigmatisch die verdrängte Materialität der Stadt. Seit mehr als vier Jahrzehnten bildet der Stadtraum den Ausgangspunkt ihrer experimentellen und prozesshaften Produktion: der Müll, der tagelang auf seine Abholung wartet, verwaiste Baustellen, Fahnen und Schilder, Rampen, Gitter und Litfaßsäulen – kurz: all die hässlichen, ungeliebten und übersehenen Objekte, die das Leben in der Großstadt regeln und zusammenhalten.

Doch Phyllida Barlow geht über eine reine Ontologie der Stadt hinaus, indem sie einen dezidiert politischen Standpunkt einbringt. Ihre Reflexion der verdrängten Materialität der Stadt birgt auch ein Versprechen auf politische Veränderung in sich. Denn das Verdrängen und Vergessen dieser Objekte ist nicht nur das Resultat des Seins der Stadt, sondern auch Manifest einer bestimmten politischen Ordnung. Der Perspektivenwechsel oder die Wiederentdeckung eines der Stadt inhärenten Potenzials eröffnet neue Sichtweisen, die für den Prozess der politischen Subjektwerdung unabdingbar sind.

Dekonstruktion und Demystifizierung des Monuments und des Monumentalen durch trashige Materialien sind die Achsen einer ihrer Strategien. Ihre fließende Definition von Skulptur als Ausschussmaterial, die noch mit den dürftigsten Mitteln eine gelungene Form findet, positioniert sich als Gegenentwurf zur traditionellen Skulptur als Territorium der Permanenz. Das Denkmalhafte konterkariert Barlow mit Materialien aus dem Baumarkt wie Gummi, Abdeckplanen, Klarsichtfolien, Asphalt, Beton, Farbe, Stoffabfällen, Holzpaletten, Zement, Styropor, Gips, Karton und Kabeln.

Phyllida Barlows künstlerische Praxis zeichnet sich durch den fließenden Prozess einer kontinuierlichen Produktion und Destruktion aus. Durch Trennen und Verbinden lässt sie ein feines Gewebe von Bezügen zwischen Materialien und Räumen entstehen. Das entterritorialisierte Material wird wieder in Umlauf gebracht und in anderen Räumen territorialisiert, wodurch Objekte und Material neue Beziehungen und Dialoge zu anderen Räumen und Materialien eingehen. Dieser dynamische additive und subtraktive Prozess des Verbindens und Trennens lässt die Grenzen zwischen den Kategorien, zwischen Innen und Außen verschwimmen und findet seine stärkste Referenz im Merzbau Kurt Schwitters’.

Die Ausstellung Street in der BAWAG Contemporary umfasst sieben neue Arbeiten, die direkt auf die spezifische Architektur der Galerie antworten. Die Straße als Arrangement aus verschiedenen Zeiten, als Kombination unterschiedlichster Materialien, als Ergebnis zahlloser Einflüsse und Aktionen wird damit vorübergehend in die Galerie geholt. Die Galerie, die durch ihre Architektur – viel Glas und Beton, die beiden Eingänge, die Passage – bereits Teil des urbanen Raums ist, nimmt die Stadt weiter in sich auf. Die Geschichte der Objekte verbindet sich mit der Geschichte der Räume vom ehemaligen Kachelschauraum über das Röntgenlabor bis zum Kunstraum. Die Kacheldecke ist nur einer der materiellen Reste, die aus einer anderen Zeit des Raums, einem anderen Leben der Stadt übrig geblieben sind. Der fensterlose Keller, eine Art Höhle, wird zu einem Ort der Erinnerung, des Unbewussten und Verdrängten transformiert.

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Phyllida Barlow
Street
Kuratorin: Christine Kintisch