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Der Austausch zwischen Camera Austria und dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu über die vergangenen Jahre mündete in ein weit reichendes Projekt: Pierre Bourdieu hat Franz Schultheis und Camera Austria sein gesamtes Archiv von Fotografien, die während seiner Feldforschungsarbeiten in Algerien zwischen 1958 und 1961 entstanden sind und sein frühestes und nach wie vor aktuelles Werk darstellen, mit dem Ziel anvertraut, diese Fotografien in einer Ausstellung und Publikation erstmals der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. In Zusammenarbeit mit Pierre Bourdieu (der zu Beginn des Jahres 2002 verstorben ist) und Franz Schultheis wurden die fotografischen Dokumente gesichtet und strukturiert und zu zeitgleich in Algerien entstandenen ethnografischen und soziologischen Studien in Beziehung gesetzt. Die Ausstellung „Pierre Bourdieu: In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung“ wird die historischen, politischen, wissenschaftlichen, aber auch biografischen Kontexte zeigen, innerhalb derer diese Arbeiten entstanden sind.

Als im Rahmen eines Gesprächs mit Pierre Bourdieu über seine Algerien-Studien die Rede auf diese (bis dahin weit gehend unveröffentlichten) Fotografien kam, entstand aus der spontanen Neugierde bald das Projekt, diese bisher unbekannte Facette Bourdieu’scher Ethnologie zu veröffentlichen. Diese Fotografien aus Algerien stellen ja zunächst wichtiges ethnografisches Primärmaterial dar; sie dürfen also nicht losgelöst vom spezifischen Erkenntnisinteresse, das der Selektion der Motive, dem jeweiligen Blickwinkel, dem Einbezug des Kontextes und somit der Konstruktion des festzuhaltenden Gegenstandes selbst zugrunde lag, betrachtet und interpretiert werden, will man nicht die kontextspezifische gesellschaftliche Bedeutung und politische Dimension dieser Bilder ignorieren. Diese sind schon von ihren Entstehungsbedingungen her „gerahmt“ und datiert, stehen in einem klaren sozio-historischen Zusammenhang und zielen darauf ab, diesen in einer spezifischen Art und Weise zu dokumentieren bzw. in Bourdieus eigener Sprache: zu objektivieren.

Alle grundlegenden Themen der Bourdieu’schen Soziologie sind schon in diesem frühen Stadium präsent. Er fragt nach den unterschwelligen Regeln des Tauschs, nach der sozialen Einbindung des Wirtschaftens, dem Verhältnis von Zeitstrukturen und Rationalität, den symbolischen Ordnungen der Gesellschaft und Herrschaftsbeziehungen zwischen den Geschlechtern, Generationen und sozialen Klassen: Fragen also, die auch in seinen späteren Schriften erkenntnisleitend sind. Die Fotografien werden als „Achsenwerk“ verstanden und dienen als Katalysatoren, verschiedene Themenkomplexe, die im theoretischen Werk Pierre Bourdieus angelegt sind, herauszuarbeiten.

Die nun erstmals um ihre fotografische Komponente ergänzten wegweisenden Feldforschungen Bourdieus bieten Einblick in den Status nascendi der Bourdieu’schen Soziologie. Neben dieser werkgeschichtlichen Dimension bleibt den Fotografien Bourdieus aber auch der Charakter eines beeindruckenden sozio-historischen Dokuments. Sie zeugen von einer gesellschaftlichen Welt voller Ungleichzeitigkeiten, deren Menschen auch heute noch nicht ihre Heimatlosigkeit und Entwurzelung – eine Entfremdung gegenüber Tradition und Moderne zugleich – überwunden haben. Vielleicht liegt die hier zum Ausdruck kommende Tragik Algeriens ja gerade darin, dass die Fotografien auch nach vier Jahrzehnten nichts an Aktualität und Realismus eingebüßt haben.

Die Ausstellung wurde kuratiert von Christine Frisinghelli, Camera Austria, Graz, und Franz Schultheis, Fondation Pierre Bourdieu, Départment de Sociologie, Universität Genf.

Pressetext

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Pierre Bourdieu
In Algerien - Zeugnisse der Entwurzelung
In Zusammenarbeit mit Camera Austria, Graz
kuratiert von Christine Frisinghelli und Franz Schultheis