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Er ist der „erste österreichische Expressionist“ und für viele immer noch ein Geheimtipp: der Maler Richard Gerstl (1883–1908). Er wurde nur 25 Jahre alt und wird in einem Atemzug mit den großen Meistern der Wiener Moderne Gustav Klimt, Egon Schiele und Oskar Kokoschka genannt. In seinen wenigen Lebensjahren schuf der Künstler ein aufregendes und ungewöhnliches, wenn auch überschaubares Werk – eines mit beeindruckenden Höhepunkten und wegweisenden Neuerungen. Die Schirn Kunsthalle Frankfurt präsentiert vom 24. Februar bis 14. Mai 2017 die erste Retrospektive Richard Gerstls in Deutschland. Seine Malerei reflektiert seine Auseinandersetzung mit den Widersprüchen der Moderne: Er war ein Rebell, widersetzte sich stilistisch und inhaltlich der Wiener Secession, lehnte deren Schönheitsbegriff ab und bekannte sich zu einer Ästhetik des Hässlichen. Gerstl liebte die Provokation und malte in der Überzeugung, künstlerisch „ganz neue Wege“ zu gehen, gegen tradierte Regeln an. Dabei schuf er schonungslose und selbstbewusste Bilder, die keinem Vorbild folgen und bis heute ihresgleichen suchen. Sein Œuvre ist das eines Suchenden, das bereits vieles vorweg nahm, was erst später in der Kunstgeschichte ausformuliert wurde, etwa in der Malerei des Abstrakten Expressionismus der 1950er-Jahre. Das Porträt, vor allem das Selbstporträt, der Akt und die Landschaft sind Gerstls bevorzugte Genres. Die Ausstellung in der Schirn zeigt u. a. zwei Selbstporträts des Malers: das früheste, das Selbstbildnis als Halbakt von 1902/04 und sein letztes, das Selbstbildnis als Akt von 1908. Neben Porträts wie Die Schwestern Karoline und Pauline Fey (März/April 1905) oder das Bildnis Henryka Cohn II (Sommer 1908) präsentiert die Ausstellung auch die zahlreichen Darstellungen von Mathilde Schönberg, etwa Mutter und Tochter (Ende 1906) oder Sitzender weiblicher Akt (Herbst 1908) sowie Porträts der Freunde und Schüler des Komponisten Arnold Schönberg, wie etwa das Bildnis Alexander von Zemlinsky (Juli 1908). Gerstls Gemälde Die Familie Schönberg und insbesondere das Gruppenbildnis mit Schönberg (beide Ende Juli 1908) bilden einen Höhepunkt in der Ausstellung. Die Schirn versammelt von 60 überlieferten Werken Richard Gerstls insgesamt 53, darunter Leihgaben aus führenden Museen Österreichs, u. a. aus dem Leopold Museum, der Galerie Belvedere, dem MUMOK, dem Wien Museum, der Albertina, dem Oberösterreichischen Landesmuseum Linz und dem Museum der Moderne Salzburg. Ein großes Konvolut kommt zudem aus der Neuen Galerie in New York und weitere Werke aus wichtigen europäischen und amerikanischen Privatsammlungen. Zur Ausstellung erscheint eine wissenschaftliche Publikation mit einem – erstmals seit 1993 – aktualisierten Werkverzeichnis.

Die Ausstellung „Richard Gerstl Retrospektive“ wird durch den Verein der Freunde der Schirn Kunsthalle e. V. gefördert.

Dr. Philipp Demandt, Direktor der Schirn, über die Retrospektive: „Zu Lebzeiten blieb der ‚Frühexpressionist‘ ein Unbekannter, auch da er keine einzige Ausstellung hatte. Bis heute wird Richard Gerstls Œuvre als besonders zeitlos und aufregend zeitgenössisch rezipiert. Seine Malerei nahm vieles vorweg, was erst viel später in der Kunstgeschichte seinen Platz gefunden hat. Die Schirn Kunsthalle Frankfurt präsentiert nun die erste große Retrospektive des Österreichers in Deutschland mit fast allen überlieferten Werken. Gerstl ist eine wahre Entdeckung für die Besucherinnen und Besucher und sicherlich schon bald kein Geheimtipp mehr.“

„Richard Gerstl hat wie ein Seismograf die unterschwelligen Spannungen seiner Epoche verarbeitet. In der von Verdrängung geprägten Gesellschaft in Wien um 1900 war er einer der Ersten, die Sigmund Freuds Traumdeutung lasen. Er war nicht nur künstlerisch talentiert, sondern auch hochgebildet, und beschäftigte sich mit Musik, Philosophie, Fremdsprachen und Literatur. Es steht außer Frage, dass Gerstl – seinem rebellischen Geist folgend – die Kunsttendenzen seiner Zeit viel stärker reflektiert hat, als es viele seiner Künstler-Zeitgenossen taten“, so Dr. Ingrid Pfeiffer, Kuratorin der Ausstellung.

Richard Gerstls Werk umfasste ursprünglich rund 80 Arbeiten, wovon heute nur etwa 60 überliefert sind. Die Unterschiede zwischen Gerstls Malerei und jener seiner Zeitgenossen, der Wiener Secessionisten, sind auffällig und betreffen ebenso den künstlerischen Stil wie auch die Inhalte. Gerstl verweigerte sich grundsätzlich allegorischen Themen und interessierte sich nicht für Angewandte Kunst und Grafik. Sein Verständnis von künstlerischer Ästhetik richtete sich vehement gegen die von der Secession vertretene Auffassung einer vollständigen Stilisierung und Ästhetisierung aller Lebensbereiche. Gerstls Malerei zeichnet sich vielmehr durch eine schonungslose Direktheit ohne Symbolik oder literarische Bezüge aus. Obwohl er schon früh in Kunstkreisen verkehrte – bereits als 15-jähriger wurde er 1898 in die Wiener Akademie der bildenden Künste aufgenommen –, hatte er zeitlebens nicht eine einzige öffentliche Ausstellung. 1908 ergaben sich für ihn zwar Möglichkeiten, die er aber nicht nutzen konnte oder wollte: Zum einen übte Gerstl scharfe Kritik an einer geplanten Ausstellung des Hagenbundes – initiert durch den Mitbegründer, seinen Akademielehrer Professor Heinrich Lefler. Aus Furcht vor einem Skandal wurden seine Werke aus der Präsentation ausgeschlossen. Zum anderen lehnte Gerstl selbst wiederholt Ausstellungsinitiativen ab. So wollte er etwa nicht zusammen mit Gustav Klimt in der von Carl Moll geleiteten Galerie Miethke ausstellen.

Gerstls zentrales Interesse galt dem Porträt, insbesondere dem Selbstporträt, das ihm als Mittel zur Selbsterforschung diente. Das erste, noch stark dem Symbolismus verhaftete Selbstbildnis als Halbakt (1902/04) nimmt im Werk des Österreichers eine Sonderstellung ein. Es entstand nur ein Jahr, nachdem er die Akademie verließ und sein Malereistudium unterbrach. Es ist ein frühes selbstbewusstes Statement als Künstlerpersönlichkeit. Als kunsthistorisch hoch gebildeter Maler spielte er mit zahlreichen Versatzstücken einer Kunsttradition, die der 19-jährige längst hinter sich gelassen hatte. In späteren Selbstporträts stellt sich der Maler in bestimmten Rollen dar: als Dandy in Selbstbildnis vor blaugrünem Hintergrund (Frühling/Sommer 1907), als klassischer Maler in Selbstbildnis vor einem Ofen (Winter 1906/07), unsicher wirkend in Selbstbildnis mit Palette (Winter 1906/07) und wieder provozierend in Selbstbildnis, lachend (Sommer/Herbst 1907). In seinem letzten Selbstporträt, dem Selbstbildnis als Akt (September 1908), malte sich Gerstl als erster Künstler seit Albrecht Dürer (1471–1528) komplett nackt und brachte zugleich seinen malerisch freien Stil der letzten Werkphase zu einem Höhepunkt.

Ungeachtet ihrer unterschiedlichen Stile, Formate, Farben und Kompositionen erzeugen Gerstls Werke bis heute eine eindringliche und zeitlose Wirkung – wie etwa das Bildnis Die Schwestern Karoline und Pauline Fey (März/April 1905). Fast surreal mutet die Erscheinung der beiden Frauen an, die ohne Hände, Füße oder Körper, ohne wirklichen Raum oder Hintergrund, mit einem eigenartigem Gesichtsausdruck und riesigen schwarzen Pupillen eine seltsame, traumhafte Wirkung erzeugen. Die Komposition erinnert an Werke von Édouard Manet (1832–1883). Neben dem französischen Impressionisten orientierte sich Gerstl auch an anderen Leitfiguren der internationalen Moderne, vor allem an Edvard Munch (1863–1944), Ferdinand Hodler (1853–1918) oder Vincent van Gogh (1853–1890), die zu seiner Zeit in Wien ausgestellt wurden. Der Österreicher erschöpfte sich allerdings nicht in der Paraphrase, sondern entwickelte vielmehr eigene originelle Neuinterpretationen.

1906 lernte Gerstl den Komponisten Arnold Schönberg (1874–1951) und dessen Frau Mathilde (1877–1923) kennen, denen er privaten Malunterricht erteilte. Mathilde Schönberg, die spätere Geliebte Gerstls, ist neben den Selbstporträts das häufigste Motiv in seinem Œuvre. Im Gegensatz zu seinen direkten und lebendig gemalten Selbstbildnissen begegnet der Künstler Mathilde in seinen Bildern stets zurückhaltend, leidenschaftslos und passiv. Zwei Jahre kreiste Gerstl stilistisch und thematisch um das Mathilde-Motiv – von der steifen Darstellung Mathildes und ihrer Tochter in Frau mit Kind (Mathilde Schönberg mit Tochter Gertrud) (Juni 1906) über die sehr eigenständige Interpretation der Ornamentik der Wiener Werkstätte in Bildnis der Mathilde Schönberg im Atelier (Frühling 1908) bis zu der deutlichen Van-Gogh-Rezeption in Mathilde Schönberg im Garten (Juli 1908). Sein letztes Gemälde Sitzender weiblicher Akt (Herbst 1908) zeigt die nackte Mathilde in seinem Atelier. Das expressiv-abstrakte Bild entstand vermutlich wenige Tage vor seinem Tod und markiert einen radikalen Schlusspunkt im Werk des Künstlers: Nachdem Mathilde zu ihrem Ehemann zurückgekehrt, und es zum Bruch zwischen Gerstl und dem Schönberg-Kreis gekommen war, erstach und erhängte sich der erst 25-jährige Künstler am 4. November 1908 ohne Vorwarnung in seinem Atelier.

Mehr als ein Drittel der überlieferten Werke Gerstls sind Landschaften. Die meisten entstanden 1907 am Traunsee in Gmunden, wo der Künstler auf Einladung Schönbergs mit dessen Schülern und Freunden den Sommer verbrachte. Dort sind auch die beiden Bildnisse Die Familie Schönberg und Gruppenbildnis mit Schönberg (beide Ende Juli 1908) entstanden, die der Künstler bei einem zweiten Aufenthalt – ein Jahr später – anfertigte. Beide Werke zeichnen sich durch einen hohen Abstraktionsgrad aus. Er malte sie wahrscheinlich mit „meterlangen Pinseln“. Ritzungen auf der aufgerauten Oberfläche und Spuren des Pinselstiels verweisen auf eine gestische Aktionskunst. Besonders das Gruppenbildnis mit Schönberg kann als Vorläufer des österreichischen Expressionismus gelten. Gerstl treibt in diesem Gemälde seine das Stoffliche auflösende, entmaterialisierende Maltechnik zum Äußersten. Ungeachtet seiner wilden, schwungvollen, rauen Pinselschrift bleiben Körper und Kleidung dennoch gegenständlich und die in der Nahsicht verzerrten und ununterscheidbaren Gesichter der Dargestellten werden erkennbar, wenn der Betrachter zurücktritt.

Vom 29. Juni bis 25. September 2017 ist die Ausstellung „Richard Gerstl Retrospektive“ in der Neuen Galerie in New York zu sehen. Es ist die erste amerikanische Schau.

KATALOG Richard Gerstl Retrospektive Herausgegeben von Ingrid Pfeiffer und Jill Lloyd in Zusammenarbeit mit Raymond Coffer. Mit einem Vorwort von Philipp Demandt, Essays von Raymond Coffer, Jane Kallir, Diethard Leopold, Jill Lloyd mit Karol Winiarcyk und Ingrid Pfeiffer sowie einem Werkverzeichnis von Raymond Coffer und der Biografie des Künstlers von Maria Sitte. Deutsche Ausgabe, 23,5 x 28 cm, gebunden, 192 Seiten, ca. 130 Abbildungen.